JUNGVOLK

Mit 10 Jahren konnte man Mitglied des Deutschen Jungvolks (DJ), der Organisation der 10– bis 14–jährigen in der Hitlerjugend (HJ), werden. Obwohl ich 1938 das entsprechende Alter erreicht hatte, verspürte ich nicht die geringste Lust, bei den Pimpfen mitzumachen. Zweimal in der Woche am Nachmittag Dienst, das hätte meine persönliche Freiheit doch zu sehr eingeengt; und ich hatte ja auch immer noch das Erlebnis der Pimpfenprobe im Wäldchen von Wallwitz vor Augen und das machte mir Angst. Eine ganze Reihe Klassenkameraden waren aber Pimpfe geworden. Eines Tages fragte mich Siegfried: „Sag mal Werner, hast du nicht Lust, einmal zu einem unserer Heimnachmittage mitzukommen. Vielleicht macht es dir Spaß und du wirst auch Pimpf?“ Ich ließ mich überreden und ging mit.

In einer alten Laube hatte sich die Jungschar ihren Klub eingerichtet. In einer Ecke stand der Wimpel der Schar, eine weiße S-Rune auf schwarzem Grund. Darunter eine Landsknechttrommel des Jungvolks. An der Wand hingen Bilder von Hitler und Schirach.
Den Heimnachmittag leitete der große Bruder von Siegfried, ein strammer Hitlerjunge. Es ging um nationalsozialistische Traditionen, um germanisches Brauchtum und Rassenkunde, notwendige Kenntnisse, wie er sagte, die ein Pimpf wissen und darum lernen müsse. Die Forderung nach Lernen verdarb mir den anfänglichen Spaß an der Sache völlig, machte mir doch das Lernen in der Schule schon keinen Spaß. Die Mitgliedschaft im DJ kam für mich also nicht in Frage.
Um alle Kinder und Jugendliche in der faschistischen Jugendorganisation zu erfassen, erließ die Naziführung ein Gesetz, wonach ab April 1939 die Mitgliedschaft im DJ und der HJ Pflicht wurde. Da half nun kein Sträuben mehr, ich musste dem Jungvolk beitreten
Schon als Pimpf hatte man eine Uniform zu tragen, die durch die Eltern zu kaufen war. Sie bestand aus braunen Halbschuhen, weißen Kniestrümpfen, kurzer dunkelblauer Hose, braunem Hemd, schwarzem Halstuch, das durch einen Lederknoten zusammengehalten wurde, Koppel, Schulterriemen und Fahrtenmesser. Da es bei Schuhen, Strümpfen und Hosen nicht so genau darauf ankam, bekam ich nur das Braunhemd, das Halstuch und den Knoten. Ich weiß nicht, ob es aus Prinzip war, oder weil das Geld fehlte, Koppel, Schulterriemen und vor allem das Fahrtenmesser hielten meine Eltern nicht für erforderlich. Auch ich war nicht scharf darauf und deshalb drängte ich meine Eltern auch nicht, mir diese Sachen zu kaufen. So bin ich zum Glück nie damit ausstaffiert worden.
Zum Dienst bin ich nie gerne gegangen. Ich verabscheute den preußischen Drill. Ich fand es erbärmlich, von Gleichaltrigen geschliffen zu werden. Bei den Heimnachmittagen langweilte ich mich, weil doch immer wieder das selbe wiedergekäut wurde. Eine besondere Aversion aber hatte ich gegen die sonntäglichen Kriegspiele, wo ‚Rot‘ gegen ‚Blau‘ kämpfte und wir uns um die Fähnlein–Wimpel prügeln mussten.
So, wie viele andere, habe auch ich, wenn es irgend ging, den Dienst geschwänzt. Vielfach erhielt ich auch Unterstützung durch meine Eltern. Besonders im Winter brauchte ich oft nicht zum Dienst gehen, weil ich angeblich keine ganzen Schuhe hatte. Solche Begründungen waren schon wichtig, denn das HJ-Pflichtgesetz erlaubte es, Kinder zwangsweise mit der Polizei zum Dienst zu holen.
Obwohl ich mit dem Jungvolk nichts am Hut hatte, war ich doch von den Leitbildern der HJ geprägt und habe in diesem Sinne ebenfalls bis zum bitteren Ende dem Hitlerstaat die Treue gehalten. Als ich im Herbst 1945 aus Gefangenschaft kam, fand ich, als Relikt der Pimpfenzeit, unter meinen alten Sachen noch den Lederknoten. Die Lederriemchen, aus denen er geflochten war, haben mir in der neuen Zeit als Schnürsenkel noch gute Dienste geleistet.
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