RATIONIERUNG

In meiner Familie wurde selten über Politik gesprochen!

Meine Mutter folgte da voll der Auffassung meines Vaters, der den Grundsatz vertrat: Halte dich aus allem heraus, dann kommst du immer und überall gut durch.
Die Mobilmachung Hitlers im August 1939, womit er das Heer von
800 000 Mann Friedensstärke auf rund 3,7 Millionen Soldaten erhöhte, berührte meine Eltern deshalb nicht. Die immer infamer werdende Hetze Deutschlands gegen Polen wurde kaum zur Kenntnis genommen. Auch die Mitteilung, dass der Stadt- und Landkreis Guben zum Operationsgebiet des Heeres erklärt wurde, in dem die Oberbefehlshaber der Armeen befugt waren, Rechtsverordnungen und Vorschriften aller Art zu erlassen und Zuwiderhandlungen unter Strafe zu stellen, hatte für sie keine große Bedeutung. Gedanken über die Lage in Deutschland und in der Welt begannen sie sich erst zu machen, als am Sonntag, dem 27. August 1939 alle Haushalte im Reich Bezugscheine für einige Arten von Lebensmitteln und andere lebenswichtige Verbrauchsgüter erhielten. Aber auch mit der Rationierung änderte sich unser Leben anfangs so gut wie nicht.
Auch auf uns Kinder hatte das alles keinen Einfluss! Für uns blieb eigentlich alles beim Alten.
Alles, was mit Soldatsein zu tun hatte, fand nach wie vor unser Interesse. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass mein Freund Karl, der am Ende der Mittelstraße unmittelbar am Bahnhofsberg wohnte, am Montag Nachmittag ganz aufgeregt zu mir kam, und mir berichtete: „Werner, der ganze Bahnhof an der Verladerampe vor der Eisenbahnbrücke ist voller Soldaten! Kommst du mit hin?“
„Natürlich, Karl!“ gab ich sofort meine Zustimmung.
Als wir dort ankamen, stand auf den Gleisen ein langer Güterzug, vollgeladen mit Kriegsgerät und Armeefahrzeugen. Die Soldaten, für die damals noch Personenwagen als Transportmittel zur Verfügung gestellt wurden, hatten es sich davor auf der Zufahrtstraße bequem gemacht. Einige putzten ihre Waffen, andere saßen auf den Trittbrettern und machten Putz- und Flickstunde. Ein paar hatten ihren Waffenrock ausgezogen und sich in die Sonne gesetzt. An einem geschützten Plätzchen war eine Runde beim Kartenspielen.
Für uns war das alles unheimlich interessant. Wir schnoperten überall herum. Die Soldaten waren sehr freundlich und machten ihre kleinen Scherze mit uns. Die einen boten uns zum Spaß eine Zigarette an, einige andere fragten uns, ob wir nicht ihre Burschen sein, und ihre Stiefel putzen wollen. Einer ließ uns sogar seinen Stahlhelm aufprobieren und seinen Karabiner schultern.
„Sagt mal, Jungs“, kam plötzlich ein Soldat auf uns zu, „gibt es hier in der Nähe nicht einen Bäcker und Fleischer, ich würde gerne eine Semmel und ein ordentliches Stück Jagdwurst essen wollen. Und würde es euch etwas ausmachen, das ihr für mich einkaufen geht, denn ich darf mich nicht von meiner Truppe entfernen, sonst komme ich vor ein Kriegsgericht!“ zwinkerte er uns schalkhaft zu.
Natürlich waren wir sofort bereit, für ihn bei Bäcker Stiller und Fleischer Steinke, die ja ganz in der Nähe ihre Geschäfte hatten, das Gewünschte zu besorgen.
Er gab uns 1 Mark und wir sausten los. Die Semmel zu kaufen, war kein Problem, denn dafür waren noch keine Bezugscheine erforderlich. Als wir jedoch mit unserem Anliegen zu Fleischer Steinke kamen, machte der erst Spieränzchen.

Die Fleischerei Carl Steinke. Aus: Guben und Umgebung, Euroverlag 1992, Seite 141

„Nee, Jungchens; ab heute ist Bezugscheinpflicht. Ich kann euch, auch wenn es für einen Soldaten ist, ohne Marken keine Wurst verkaufen. Ich würde mich ja strafbar machen“.
Eine ältere Frau, die sich auch gerade im Laden befand, mischte sich ein: „Na, Meester, nu sin se man nich so pingelich. Es wird doch nich alles so heeß jejessen, wie et jekocht wird. Un, am erschten Tach sollte man och nich alles so jenau nehm. Nu jebense den Jungs schon en Sticke Wurscht vor die Soldaten“.
Dieser gutgemeinten Aufforderung konnte sich Fleischer Steinke nun doch nicht verweigern, und so bekamen wir schließlich, wenn auch widerstrebend, für den Soldaten ein ordentliches Stück Wurst ohne Marken.
Der Soldat nahm dankbar die Lebensmittel in Empfang und überließ uns großzügig das Restgeld als Botenlohn. Dann machte er sich genüsslich über die knusprige Semmel und die appetitlich duftende frische Jagdwurst her. Als das die Soldaten in seiner Nähe sahen, bekamen sie auch Appetit, und baten uns, für sie doch auch so leckere Sachen einkaufen zu gehen. Bei der Wurst gab es aber unterschiedliche Wünsche. „Seht mal zu, dass ihr für mich Blutwurst bekommt“, bat der eine. „Ich würde lieber grobe Leberwurst haben“, ein anderer. Ein dritter wollte „Presskopf“ und der Wunsch eines vierten war „Braunschweiger“.
Wir hatten zu tun, uns all ihre Wünsche zu merken, aber noch viel mehr Sorge bereitete uns die Frage: Wird Fleischer Steinke auch bereit sein, die Wurst ohne Marken herauszurücken?
Das Glück war uns hold. Der Meister befand sich nicht im Laden, als wir die Wünsche der Soldaten vortrugen. Die Meisterin, die uns bediente, hatte keine so großen Skrupel, wie ihr Mann; und wir bekamen, was wir wollten, auch ohne Marken. Auch diesmal konnten wir das Wechselgeld als Botenlohn behalten.
Wir waren den ganzen Nachmittag voll damit beschäftigt, die Einkaufs-wünsche der Soldaten zu erfüllen, was uns trotz der gerade eingeführten Rationierung, dank der Großzügigkeit der Fleischermeisterin, recht gut gelang.
Als wir uns am späten Nachmittag auf den Heimweg machten, waren wir frohen Mutes. Wir hatten unseren Soldaten geholfen und diese Hilfe hatte uns sogar noch ein nicht unerhebliches Sümmchen an Botenlohn eingebracht.
Ich klimperte glücklich mit den Münzen in meiner Tasche. Endlich hatte ich soviel Geld zusammen, um mir bei Waffen-Scheer in der Salzmarkstrasse eine, schon lange sehnlichst gewünschte, Schreckschusspistole (einen 6–schüssigen Trommelrevolver) zu kaufen.
Am nächsten Tag, gleich nach der Schule, sauste ich los. Als mir der Verkäufer eröffnete, dass an Jugendliche unter 18 Jahre keine Waffen verkauft werden dürfen, war ich maßlos enttäuscht. Nun hätte ich ja bestimmt einen 18 Jahre alten Jugendlichen finden können, der für mich die Pistole kaufen gegangen wäre, aber so ausgekocht war ich nicht. Zerknirscht zog ich von dannen und überlegte, was ich nun tun könnte. Da mein Luftschloss zusammengebrochen war, musste ich mich wieder an der Realität orientieren. Deshalb steuerte ich zielgerichtet auf das Spielzeuggeschäft Flach zu und kaufte mir dort kurzerhand einen 6–schüssigen Zündblättchen-Colt. Hinterher habe ich mich zwar geärgert, doch zum Cowboy-Spielen, sagte ich mir, ist er allemal gut.
Wenige Tage später, am 1.September 1939, begann der 2. Weltkrieg. Anderes wurde wichtiger, als Cowboy-Spiele. Ich versteckte die Spielzeugpistole ganz hinten in meinem Schubfach, denn meine Eltern durften ja davon nichts wissen.
Da lag sie nun, und bald hatte ich sie vergessen!
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