KRISTALLNACHT

Gegenüber den Juden gab es in unserer Familie, trotz der immer diffam-ierender werdenden Boykotthetze der Nazis, keine Berührungsängste.

Das war weniger eine Frage der Überzeugung, als vielmehr eine Frage des Geldes. Als ich zum Beispiel zu meinem 10. Geburtstag einen neuen Lodenmantel bekommen sollte, da ging ihn mein Vater mit mir beim jüdischen Modewarengeschäft Meyer am Markt kaufen, weil er ihn dort am billigsten bekam.
Als ich am Morgen des 10. November 1938, das war der Tag nach der Reichskristallnacht, auf dem Weg zur Schule an den zerstörten, verwüsteten und geplünderten jüdischen Geschäften vorbeikam, war ich in meiner kindlichen Naivität fassungslos. Mir war unverständlich, wie Menschen zu so etwas fähig sein konnten. Ein unbestimmtes Gefühl des Mitleids überkam mich, verbunden mit einem gruseligen Schauder der Angst. Eigenartig fand ich auch das Verhalten der Erwachsenen. Die meisten taten unbeteiligt, hatten es mächtig eilig und hasteten mit gesenkten Köpfen vorüber. Aber auch ich hatte Scheu, stehen zu bleiben, um zu sehen, was da genau passiert war.

Schüler Mandelbaum
Eine neue Überraschung erlebte ich in der Schule. Unser Klassenkamerad Man-delbaum war nicht zum Unterricht er-schienen. Wir bekamen gesagt, seine Eltern wären weg-gezogen, aber einige wussten es besser, und ein Schüler, dessen Vater strammer Nazi war, verkündete vorlaut: „Die hat man ins gelobte Land abge-schoben...“.
Nach der Schule gingen Karl und ich in die Stadt, um uns alles genau anzusehen. Vor den jüdischen Geschäften lagen die Glassplitter der zertrümmerten Schaufen- sterscheiben. Durch die leeren Fenster-höhlen konnte man in die verwüsteten und geplünderten Geschäfte sehen. Unifor-mierte SA Leute wachten vor den Läden, angeblich, um weitere Plünderungen zu verhindern; doch einige von ihnen krochen selbst zwischen den verstreut liegenden Sachen in den Geschäften herum, aber bestimmt nicht zum Schutz des jüdischen Eigentums.
Im Kastaniengraben schließlich standen wir beklommen vor den verkohlten, zum Teil noch qualmenden, Resten der abgebrannten jüdischen Synagoge. Die Feuerwehr, die nur dafür gesorgt hatte, dass die Nachbargebäude durch das Feuer nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden, war schon wieder abgerückt. Mit ein paar anderen Kindern, die auch die Neugierde hergetrieben hatte, krochen wir durch die Trümmer und über die, vom Feuer mehr oder weniger zerstörten, jüdischen Kultgegenstände. Das eine oder andere lädierte, verschmutzte, oder durch das Feuer deformierte Bruchstück zogen wir aus dem Brandschutt, um es uns genauer zu betrachten.
Einer der Erwachsenen, die auch an dem abgebrannten und zusammen-gestürzten jüdischen Gotteshaus vorbeigingen, forderte uns schließlich, unter beifälligem Gemurmel der anderen, energisch auf: „Bengels, was sucht ihr denn da? Kommt sofort da raus! Das hier ist kein Spielplatz, macht, dass ihr nach Hause kommt!“ Erschrocken beendeten wir unser leichtsinniges Tun und zogen von dannen, ohne überhaupt richtig begriffen zu haben, was hier eigentlich vor sich gegangen war.
Während des Krieges hatte ich noch einmal ein Erlebnis, das mich damals emotional sehr bewegte und mir deshalb in Erinnerung geblieben ist. Auf dem Weg zur Schule, es muss im Herbst gewesen sein, denn es war ein trister, regnerischer Morgen, begegnete ich einer Kolonne bewachter Frauen in grober, dunkler Kluft, mit Holzpantoffeln an den Füssen und tief ins Gesicht gezogenen Kopftüchern. Ins Auge fiel mir der gelbe Judenstern, den alle an ihrer Kleidung trugen. Als sie an mir vorbeizogen, schauten sie verängstigt nach unten, nur eine wagte einen kurzen scheuen Blick zu mir. Ich erschrak, denn dieses Gesicht, jetzt zwar grau und ausgemergelt, kannte ich. Diese Frau hatte früher in der Gärtnerei Flöter an der Ecke Grün-, Mittelstrasse gearbeitet, in der ich oft Gemüse und Suppengrünes kaufen war. Sie schien mich auch erkannt zu haben, denn ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Wie ich später im Gubener Heimatkalender von 1988 lesen konnte, muss es sich dabei um eine Gruppe von jüdischen Frauen gehandelt haben, die sich in einem Sammellager in Guben befanden und unter Bewachung zur Arbeit in den Rüstungsbetrieb der Borsig-AG geführt wurden.
Episoden erlebter Geschichte, die immer wieder aufs Neue erschüttern!
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