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Der Tag war anders als sonst; jeder spürte es. Keine Arbeitskolonne verließ, wie sonst jeden Morgen, das Lager. Es lag etwas in der Luft! Als Gefangener reagiert man wie ein Seismograph auch auf die geringsten Veränderungen im Lagerleben. Die unterschiedlichsten Gerüchte begannen im Lager zu kursieren. Die einen wollten aus sicherster Quelle wissen, dass wir nach Hause entlassen werden. Andere sprachen von der Verlegung in ein anderes Lager. Aber den meisten ließ der beängstigende Gedanke keine Ruhe, wir könnten nach Sibirien verfrachtet werden.

Doch etwas Genaues wusste niemand, und so warteten wir, wie immer in einer solchen Lage, ab, was passieren würde.
Nach dem Mittag wurde die deutsche Lagerleitung zum russischen Lagerkommandanten beordert. Von ihr erfuhren wir am späten Nachmittag, dass unser Lager verlegt wird, doch wohin, das hätte man ihnen auch nicht gesagt.
Gegen Abend marschierten wir dann mit unserer gesamten Habe unter Bewachung zum Haltepunkt Frankfurt-Gronenfelde (heute Klingetal genannt), wo auf einem Nebengleis eine Anzahl offener Güterwagen stand, die normaler Weise für Schüttguttransporte vorgesehen waren. Jeweils für zwei 100er Gruppen standen drei Güterwagen zur Verfügung, das heißt, zirka 70 Mann mussten sich in einen solchen Güterwagen quetschen. Die Eisenbahnwagen hatten keine Türen, aber dafür alle ein Bremserhäuschen, in denen sowjetische Soldaten als Bewacher mitfuhren. Wir mussten, um in die Waggons zu kommen, auf die Puffer steigen und von dort über die Waggonwand klettern. War das ein Krabbeln, Schubsen und Drängeln. Jeder versuchte, sich einen einigermaßen annehmbaren Platz zu sichern. Obwohl ich einer der Letzten war, die in den Waggon kletterten – oder vielleicht gerade deswegen(?) – hatte ich Glück und ergatterte einen Platz in der Waggon-Ecke. Zwar eingekeilt, aber wenigstens nach zwei Seiten festen Halt, machte ich es mir so bequem wie möglich. Die Fahrt ins Ungewisse konnte losgehen.
Als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, schlummerte ich etwas ein. Dadurch merkte ich nicht, das er bald wieder anhielt und sich sogar wieder rückwärts bewegte. Da es dunkel geworden war, hatte ich auch keine Orientierung, wo wir uns befanden. Als ich im Morgengrauen aus meinem Schlummer aufwachte, war ich fest davon überzeugt, dass wir die ganze Nacht gefahren waren. Um so überraschter war ich, als ich über den Waggonrand schaute und feststellte: wir waren immer noch in Frankfurt.
Drei Tag und drei Nächte waren wir so, eingepfercht in unsere Waggons, unterwegs, bevor wir unser Ziel erreichten. Weil die Strecke durch die Kriegseinwirkungen noch stark in Mitleidenschaft gezogen war, musste unser Zug immer wieder auf Nebengleisen halten, rangieren, zerstörte Abschnitte umfahren und Gegenzüge erst durch lassen. Wir hatten jedes Orts- und Zeitgefühl verloren. Nach unserer Auffassung mussten wir schon weit in Russland sein. In Wirklichkeit hatten wir die Zeit benötigt, um lediglich die läppischen 200 Kilometer bis nach Posen zu bewältigen. Unter normalen Bedingungen eine Eisenbahnfahrt von drei Stunden.
Posen war für die nächste Zeit der Ort, in dem wir als sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren. Wir kamen zuerst in das Posener Hauptlager (ich glaube, es war das ehemalige Warthe-Lager der Wehrmacht). Der Marsch vom Bahnhof durch die Stadt dorthin war für uns ein Martyrium. Viele Polen säumten die Straße und ließen ihre Wut an uns verhassten Deutschen aus. Wir wurden beschimpft, bespuckt und manchmal sogar geschlagen. Unsere Bewacher hatten alle Hände voll zu tun, um uns, und zum Teil auch sich selber, vor den aufgebrachten Polen zu schützen.
Das Lager war bereits Überfüllt und wir hatten es bei weitem nicht so gut, wie in Frankfurt. Aber immer noch besser, als nach Russland, oder sogar nach Sibirien zu kommen.
Natürlich ging es, wie immer, wenn wir in ein neues Lager kamen, zuerst zur Entlausung. Doch diese Plagegeister schienen dagegen resistent zu sein. Kaum hatten wir unsere Sachen aus der Entlausung zurück, krabbelten sie schon wieder auf uns herum und setzten uns mit ihren Bissen zu. Besonders mein blauer Marinepullover, der mir bisher in der Gefangenschaft gute Dienste geleistet hatte, schien ihnen als Brutstätte zu gefallen. Immer und immer wieder las ich die Biester ab, nur, um beim nächsten Mal noch mehr zu finden. Vor allem im doppelten Kragensaum hatten sie sich eingenistet und dort in Massen ihre Eier abgelegt. Ich versuchte dagegen anzugehen, indem ich den Kragen zwischen zwei Steinen bearbeitete. Alles vergebens! Schließlich entschloss ich mich schweren Herzens, mich von meinem schönen Pullover zu trennen. Ich habe ihn in die Latrine geworfen.
Es war sicher der anstrengenden Bahnfahrt in den engen Waggons anzulasten, das mein rechter Fuß, an dem Bein, wo ich an der Wade immer noch die eiternde Wunde hatte, plötzlich ganz dick anschwoll. Als ich damit bei unserem Sanitäter vorstellig wurde, brachte er mich sofort zur sowjetischen Ärztin, die im Lager praktizierte.
Die Ärztin besah sich den aufgedunsenen Knöchel, drückte mit dem Daumen in das rot entzündete Fleisch, in dem für eine Weile eine Delle blieb, und fällte dann ihr Urteil: „Du haben Phlegmone*, du kommen in Hospital!“

* Zellgewebeentzündung
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