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Die Hauptzeit meiner Gefangenschaft in Frankfurt/O. verbrachte ich im Lager Gronenfelde. Nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands begann sich das Lagerleben langsam zu normalisieren. Es entwickelte sich sogar schnell ein gewisses Eigenleben. Neben dem sowjetischen Lagerkommandanten gab es eine deutsche Lagerleitung, die für die notwendige Ordnung sorgte. Unter ihrer Führung wurden auch in echt preußischer Manier morgens und abends die Zählappelle durchgeführt. Nur zu verständlich, dass viele Frontsoldaten immer wieder dagegen opponierten, schon wieder von deutschen Offizieren kommandiert zu werden.

Im medizinischen Stützpunkt waren deutsche Armeeärzte und Sanitäter tätig. Unter Aufsicht eines sowjetischen Natschalniks arbeiteten auch Gefangene im Versorgungsbereich. Es gab Frisör und Lagerbibliothek. Wenn Entlausung war, konnten wir sogar Duschen. Und was das Wichtigste war: wer wollte, konnte sich zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers melden. Das war äußerst lukrativ, denn wer zur Arbeit ging, bekam Sonderrationen und, was nicht weniger bedeutend war, er hatte draußen die Möglichkeit, etwas zu organisieren – und wir Gefangene waren wahre Meister auf diesem Gebiet, wenn sich nur eine Gelegenheit dafür bot.
Ich war mit noch neun anderen Gefangenen, alles junge Kerle wie ich, in einer Stube untergebracht. Wir waren uns einig, dass wir uns immer zu Arbeitseinsätzen meldeten, um in den Genuss der zusätzlichen Versorgung zu kommen und auch anderweitig für Nachschub zu sorgen, denn satt waren wir nie! Da die Stuben nicht verschließbar waren, und man vor Diebstahl nicht sicher war, blieb reihum stets einer von uns im Lager, um unsere Sachen, hauptsächlich Esswaren, zu bewachen, denn im Laufe der Zeit hatten wir uns einen ansehnlichen Vorrat angelegt.
Die Arbeitseinsätze brachten auch eine willkommene Abwechslung in unser eintöniges Lagerleben.
Der erste Einsatz, den ich mitmachte, war an einem regnerischen Tag. Unser Trupp zog über Westkreuz die Hindenburg-Straße entlang zum Reichsbahnhaltepunkt ‚Paulinen Hof‘. Auf den Straßen befand sich keine Menschenseele. Das war sicher nicht dem tristen Wetter geschuldet, sonder vielmehr dadurch begründet, dass kurz nach Kriegsende erst wenige Frankfurter Einwohner wieder in der Stadt lebten. Wir begegneten lediglich einigen Trupps sowjetischer Soldaten. Überall an den Häuserwänden waren die Kriegseinwirkungen zu erkennen. Unsere Aufgabe bestand darin, die Bomben- und Granattrichter im Schotterbett der Gleisanlagen zuzuschippen. Eine mühselige, aber notwendige Arbeit, die wir unter dem moralischen Druck leisteten, etwas wieder gut machen zu müssen. Ein bedrückendes Erlebnis.
Einen zweiten Arbeitseinsatz leistete ich mit anderen Gefangenen hinter dem kleinen Teich, der südöstlich des heutigen Messegeländes bei Westkreuz liegt. Dort hatte die Sowjet-Armee ein großes Lager mit Wand- und Standuhren, Klavieren und Markenflügeln, Polstermöbeln, Teppichen und anderen wertvollen Gegenständen eingerichtet. Ich hatte mit noch drei Kameraden den Auftrag erhalten, die Uhren für den Transport in die Sowjetunion in stabile Holzkisten zu verpacken. Vor uns hatten schon Sowjetsoldaten (?) die eingesammelten Uhren sortiert, und sie, sicher in Unkenntnis, nicht nur der Größe nach zusammengelegt, sondern auch alle Perpendikel, Gewichte und Schlüssel der Uhren in extra Häufchen aufgeteilt.
Ein klein wenig waren wir darüber traurig, dass so viele wertvolle Sachen als Beutegut in die Sowjetunion abtransportiert werden sollten. Wir empfanden aber auch eine gewisse Schadenfreude, als wir die Dinge so verpackten, wie sie bereits vorsortiert waren; hatten wir doch die Gewissheit, dass es am Bestimmungsort kaum jemandem gelingen würde, auch nur eine Uhr richtig in Gang zu bringen Der nächste Arbeitseinsatz verlief etwas außergewöhnlich. Der Einsatzort war Anfangs die Hindenburgschule in der Hindenburgstraße.
Diese Schule hatte die deutsche Armee in ein Hilfslazarett umgewandelt. Wir mussten das Lazarettinventar ausräumen, damit dieses Objekt wieder als Schule genutzt werden konnte. (Es war die heutige Bebelschule, in der ich damals als junger Kriegsgefangener mithalf, die Voraussetzungen zu schaffen, dass auch meine beiden Söhne in den 60er Jahren dort zur Schule gehen konnten.) Auf Anweisung unserer Bewacher warfen wir die Einrichtungsgegenstände einfach aus den Fenstern. Auf dem Hof wurde der Schrott dann zusammengeschoben und abgefahren.
Die Arbeit war noch gar nicht geschafft, als ein Kamerad und ich von einem jungen Sowjetsoldaten zu einem Sonderauftrag abberufen wurden. Er zog mit uns in die Grenadierstraße. Dort merkten wir, dass dieser Sondereinsatz nur eine Finte war. In Wirklichkeit war der Soldat darauf aus, in den Wohnungen nach Wertsachen zu suchen, und wir waren ihm dafür das Alibi.
Gemeinsam mit unserem Bewacher stromerten wir durch die leeren Wohnungen. Für uns wäre es ein Leichtes gewesen, diesen jungen Soldaten, obwohl er mit einer Maschinenpistole bewaffnet war, zu überwältigen und das Weite zu suchen. Dieser Gedanke kam uns aber damals gar nicht. Vielmehr nutzten wir die uns gebotene Gelegenheit, um uns nach Zivilklamotten umzusehen. Aber wie zu erwarten, war alles wie ausgefegt. Was ich noch fand, war lediglich etwas Unterwäsche und ein paar Wollsocken. Da man die immer gebrauchen konnte, ließ ich sie mitgehen. In einer Küche waren im Schrank noch einige angenommene Tüten mit Lebensmitteln; Mehl, Zucker, Hülsenfrüchte und M o h n !
Angesichts der Mohntüte kam mir plötzlich die Erinnerung an den süßen Mohnpielen, den meine Mutter immer zu Wehnachten gemacht hatte. Deshalb steckte ich mir die Tüten mit dem Zucker und dem Mohn ein. Vielleicht, dachte ich im Stillen, gelingt es mir, so einen Mohnpielen im Lager selber zu machen: Man kann ja nie wissen!!!
Eines Tages, mehrere Kolonnen standen am Lagertor zum Arbeitseinsatz abmarschbereit, erschien ein sowjetischer Offizier. In gebrochenem Deutsch ließ er uns wissen, dass wir heute eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen hätten und er von uns erwartet, dass wir sie äußerst gewissenhaft erfüllen. Er appellierte an uns, nichts zu stehlen, denn wir würden am Ende für gute Arbeit entsprechend belohnt werden. Er verhehlte aber auch nicht, dass abends kontrolliert wird, und wer beim Klauen erwischt wird, mit Strafe zu rechnen hat.
So eingestimmt, zogen wir zu einer Verladestelle mit großen Lagerhäusern* aus denen wir unter strenger Bewachung Zucker, Salz, Speiseöl, Essig und Tabakwaren, aber auch Holzkisten mit unbekanntem Inhalt für den Abtransport in die Sowjetunion in bereitstehende Waggons verladen mussten. In Erwartung der versprochenen Belohnung arbeiteten wir fleißig und gewissenhaft, und es wurde so gut wie nichts gestohlen.
Wie enttäuscht waren wir aber, als wir abends vom sowjetischen Offizier als Dank für unsere Arbeit pro Gruppe lediglich vier Schachteln Papiros-Zigaretten überreicht bekamen; dass waren nicht mal drei Zigaretten pro Mann.
Für uns stand fest: Sollten wir noch einmal zu dieser Tätigkeit eingeteilt werden, dann klauen wir, was das Zeug hält.
Und wir bekamen unsere Chance!
Meine Gruppe war dazu eingeteilt worden, die Holzkisten zu verladen, von denen wir nicht wussten, was sie enthielten. Sie waren in dem Lagerhaus meterhoch gestapelt. Einige von uns musste im Lager die Stapel Kiste um Kiste abräumen und sie an die Rampe bringen. Die anderen mussten sie von dort in die Waggons verladen. Fließbandarbeit sozusagen!
Unter diesen Umständen, so meinten unsere Bewacher, wäre Zapzerap nicht möglich, und deshalb patrouillierten die Wachposten nur zwischen den Transporteuren vom Lager zu den Waggons.
Im Lagerhaus hatte ein Kamerad unbemerkt eine Kiste geöffnet, um zu erkunden, was sie enthielt. Die Freude war groß, und die frohe Kunde machte schnell unter uns die Runde: Die Kisten enthielten Frontkämpfer-Päckchen mit ihrem leckere Inhalt und die runden Schachteln mit ‚Fliegerschokolade‘. Die Arbeitsbrigade im Lagerhaus bediente sich davon. Dann, damit auch die anderen etwas abbekamen, wurden einzelne Päckchen an der Rampe so zurecht gelegt, dass sie von den Transporteuren heimlich weggenommen werden konnten. Meistens verstauten wir die gestohlenen Sachen in den unten zugebundenen Hosenbeinen, so dass keinem etwas auffiel. Wenn eine Kiste leer war, wurde sie wieder fachgerecht zugenagelt, wie eine volle zum Waggon transportiert und, ohne dass ein Wachposten auch nur irgend etwas Gewahr wurde, zwischen die anderen Kisten gepackt.
Auch Fließbandarbeit, aber zu unserem Nutzen!!!
So ging das mehrere Tage. Wir wechselten aber ständig die Gruppen, damit jeder etwas von diesen schönen Sachen abbekam! Erwischt wurde nur ganz selten einer, und wenn, dann bekam er von den anderen etwas ab. Es war wie Weihnachten. Mit dieser selbst organisierten Zusatzversorgung lebten wir für eine gewisse Zeit wie ‚Gott in Frankreich‘.
In dieser segensreichen Zeit konnte ich mir auch meinen Wunsch nach Mohnpielen erfüllte. Was mir bisher dazu gefehlt hatte, fand ich in den Frontkämpferpäckchen: Zwieback.
Ich weichte den Zwieback in Wasser auf. Milch wäre besser gewesen, aber die besaß ich ja leider nicht. Dann rührte ich Zucker und Mohn , den ich zwischen zwei Steinen etwas zerrieben hatte, darunter. Als der Brei steif geworden war, verspeiste ich den Pamps mit Wohlbehagen. Obwohl Butter, Rosinen und süße Mandeln darin fehlten, Zutaten, wie sie meine Mutter stets verwendete, fand ich meine ‚Kreation‘ wohlgelungen. Das bestätigten mir auch meine Kameraden, die alle mal einen Löffel davon kosten durften.
Es ist mir in der Gefangenschaft auch gelungen, meinen Appetit nach Kartoffelpuffern zu stillen. Von einem Kameraden, der in der Küche arbeitete, hatte ich mir gegen Machorka (geschnittene Tabakstängel, die die Russen rauchten) ein paar Kartoffeln eingetauscht. Das Problem bestand nun darin: ‚Wie die Kartoffeln reiben?‘, denn eine Reibe hatte ich nicht. Not macht erfinderisch! Ich nahm eine alte Ölsardinenbüchse, die ich im Lager gefunden hatte und durchlöcherte sie von innen mit einem Nagel, so dass sich im Blech, wie bei einer Kartoffelreibe, scharfe Spitzen ausbildeten. Es war zwar etwas umständlich, aber die Kartoffeln ließen sich damit einwandfrei zerreiben. Ich hatte auch einen Deckel von einem Marmeladeneimer aufgetrieben. Auf einem kleinen Feuerchen zwischen zwei Steinen backte ich darauf die Puffer. Da ich kein Öl oder Fett hatte, blieben sie aber immer am Deckel kleben und gingen schon beim Wenden kaputt.
Also Fett, oder etwas Fettähnliches, musste her, um den Blechdeckel damit einzureiben und das Anbacken zu verhindern. Ich fand aber nichts anderes, als ein paar Kerzenstummel. Mir blieb nichts weiter übrig, als es damit zu versuchen. Und es funktionierte!
Auf beiden Seiten goldbraun gebacken, mit Zucker bestreut, den ich noch hatte, verspeiste ich einen um den anderen der heißen Puffer. Es war ein Hochgenuss! Er wurde nur dadurch etwas getrübt, dass ich von Zeit zu Zeit das Stearin der Kerzen, das, wenn es erkaltete, am Gaumen haften blieb, ausspucken musste.

* Bei dieser Verladestelle kann es sich um die ehemaligen Heeres-Magazine in der Trautmannstrasse gehandelt haben.
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