WEHRERTÜCHTIGUNGSLAGER
So, wie ich Anfang des Jahres 1944 Guben verlassen hatte, um in Fürstenberg an der Oder meinen Jugendarrest abzusitzen, so verließ ich zum Jahresende 1944 meine Heimatstadt, um ins Wehrertüchtigungslager nach Lautenburg in Ostpreußen zu fahren.
Ich hatte mich aufrichtig gefreut, als ich vom HJ-Bann in Guben in das Marinewehrertüchtigungslager geschickt wurde. In meiner schicken Uniform der Marine-HJ machte ich mich auf den Weg. Am 26. Dezember 1944, gleich nach den Weihnachtsfeiertagen, begann dort die Ausbildung.
Das Wehrertüchtigungslager befand sich etwas außerhalb des kleinen Ortes am Nordostufer des Lautenburger Sees.
- Lautenburg, Ostpreußen (Messblattauszug)
Rechts hieß Steuerbord und links Backbord, achtern war hinten und die Pütz war ein Eimer. Wenn vom Zimmermannssteak die Rede war, so war beileibe keine große gegrillte Fleischscheibe gemeint; das war vielmehr ein spezieller Seemannsknoten, der zum Heißen (Heben) oder Fieren (Senken) von Rund- oder Kanthölzern verwendet wurde. Oder nehmen wir die Talje. Wenn sie so geschrieben wird, wie man sie ausspricht, so ist damit ein kleiner Schiffsflaschenzug gemeint und nicht etwa das, wo man herumfasst, wenn man mit einer jungen Frau spazieren geht, die Taille. Wir gingen hier auch nicht zum Essen, sondern zum Backen und Banken und das Tischdecken, Servieren und Abräumen erledigte eine Backschaft.
Sylvester, zum Jahreswechsel 1944/45, wir hatten uns gerade etwas im Wehrertüchtigungslager eingelebt, ertönte um 24.00 Uhr das Signal mit der Bootsmannspfeife Backen und Banken, und die Stimme unseres Ausbilders forderte uns auf: „Heraustreten zum Pfannkuchen fassen!“
In unserer Naivität glaubten wir wirklich, wir bekämen zum neuen Jahr einen mit Zucker bestreuten und köstlich mit Pflaumenmuss gefüllten Pfannkuchen und stürmten erwartungsvoll im Nachthemd auf den Flur.
Wie enttäuscht waren wir aber, als uns stattdessen unsere Ausbilder, so wie wir waren, auf den verschneiten Exerzierplatz jagten, um uns in der eisigen Kälte in schikanöser Weise das Neue Jahr als ein für Deutschland siegreicheres Jahr begrüßen zu lassen.
Zum Glück hielten sich solche Schikanen in Grenzen.
Neben der vormilitärischen Ertüchtigung mit Marschübungen, Schiessen und Sport, war die Grundlage unserer Ausbildung vor allem praktische Seemannschaft, also üben von Seemannsknoten, erlernen des internationalen Betonnungsystems, der Lichterführung bei Schiffen, der Schiffsver-kehrsordnung, der Flaggenkunde, des Signalwesens usw.
Zu unserem Leidwesen war der See, an dem sich das Lager befand, zugefroren. Die Kutter lagen Kieloben am Ufer. Zwar waren wir in Kutterbesatzungen eingeteilt, hatten aber unter diesen Umständen keine Möglichkeit, zu Rudern oder zu Segeln. Wir wurden nur eingesetzt, um Beschädigungen an unseren Kuttern auszubessern, was bei Eis und Schnee keine wahre Freude war.
Vieles war uns nicht immer gleich verständlich. Zum Beispiel machten uns Lichterführung und Seefahrtsordnung gewisse Schwierigkeiten. Eine Hilfe waren Merksätze, die wir uns einbläuen mussten. Einen habe ich noch in Erinnerung: Kommt grün - weiß - rot voraus in Sicht, leg steuerbord Ruder, zeig rotes Licht. Das heißt übersetzt: Einem im Dunkeln entgegenkommenden Schiff weicht man nach rechts aus.
Viel Aufmerksamkeit erforderte im Signalwesen das Winkverfahren. Das Alphabet zu lernen war noch recht einfach, weil man die Signalflaggen nach einem bestimmten System im Uhrzeigersinn um jeweils 45 Grad veränderte. So bezeichnete die Signalflagge am senkrecht hochgestreckten rechten Arm den Buchstaben ,A‘. Der linke Arm halb links unten war das ,E‘ und links seitlich das ,F‘ . Aus Spaß beschimpften wir uns manchmal gegenseitig als A-F-F-E, indem wir mit dem Zeigefinger einmal rechts an der Nase, zweimal unter der Nase und einmal halblinks von der Nase weg entlang fuhren.
Viel schwieriger war es aber, zusammenhängende Texte durch Winken zu übermitteln, oder, was noch komplizierter war, aus der Entfernung, und dann ja noch seitenverkehrt, bestimmte Nachrichten exakt, Buchstabe für Buchstabe, zu entziffern.
Auch das Morsen verlangte viel Aufmerksamkeit. Im Signalverkehr zwischen sich begegnenden Schiffen wird hauptsächlich mit Lichtsignalen gearbeitet. Wir trainierten das mit Morselampen. Natürlich übten wir bei jeder sich uns bietenden Gelegenheit das Morsealphabet auch akustisch, um ein Gefühl für die Zeichen zu bekommen. Der Punkt (·) wurde mit did und der Strich (–) mit da bezeichnet. Das internationale Seenotzeichen SOS (··· – – – ···) lautete also: did-did-did - da-da-da - did-did-did. Natürlich benutzten wir auch hier Merksätze, um uns die einzelnen Buchstaben besser einzuprägen. So war das ,F‘ (·· – ·) mit dem ,L‘ (· – ··) leicht zu verwechseln. Da half es, dass wir aus dem did-did-da-did ein „...fffficke du sie...“ und aus dem did-da-did-did ein „...ich llliebe dich...“ machten.
Während wir im Wehrertüchtigungslager weiter systematisch darauf vorbereitet wurden, eine gut ausgebildete letzte Reserve für den Kampf um den Endsieg zu werden, rückte die Front im Osten unaufhaltsam vor.
Auf Bitten der westlichen Verbündeten begann das sowjetische Oberkommando seine Großoffensive in Polen am 12. Januar, 8 Tage früher als geplant, auf der 1200 Km breiten Front zwischen Ostsee und Karpaten. Neben der Weichsel-Oder-Operation, in deren Ergebnis gemeinsam mit polnischen Truppen am 17. Januar Warschau befreit wurde, begann am 13. Januar auch eine Offensive der 3. und 2. Belorussischen Front zur Vernichtung der faschistischen Verbände in Ostpreußen.
Wir spürten alle, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Situation befanden. Im Lager kursierte das Gerücht, wir würden alle bewaffnet und direkt an die Front geschickt werden. Da sich im Wehrertüchtigungslager auch 14 und 15 jährige Jungen befanden, löste das bei einigen einen Schock aus und ich sah manchen vor Angst heimlich weinen.
Wenig später wurde gemunkelt, wir kämen in ein anderes Lager weiter im Westen und würden unseren Lehrgang dort zuende führen.
Die Zeit verging, aber es tat sich nichts. Im Lager lief alles weiter seinen gewohnten Gang. Doch plötzlich überstürzten sich die Ereignisse. In der Nacht vom 17. zum 18. Januar vernahmen wir deutlich Geschützdonner und hin und wieder sah man auch am Horizont östlich und südlich von Lautenburg Mündungsfeuer aufblitzen. Nun wurde uns doch mulmig. Wir bedrängten unsere Ausbilder mit Fragen, aber sie wussten auch nichts genaues. Endlich kam der erlösende Befehl: ,Das Lager ist sofort geordnet aufzulösen, bei Dunkelheit zu verlassen, Waffen und Ausrüstungsgegenstände, soweit wie möglich, mitzuführen und alle Jugendliche in ihre Heimatorte zu entlassen‘. Das Durcheinander, das nun einsetze, war unbeschreiblich. In hektischer Betriebsamkeit packten alle ihre eigenen Sachen zusammen und jeder bekam eine Anzahl Gegenstände aus dem Lager übergeben, die er mitzunehmen hatte. Die zwei Kilometer Marsch im Dunklen vom Lager bis zum Bahnhof wurden ein einziges Desaster. Es war eisig kalt. Der zerfahrene Weg war steinhart gefroren und verschneit. Unter diesen Umständen war die anfängliche Marschordnung nicht aufrecht zu erhalten und löste sich immer mehr auf. Zu Anfang schleppte jeder von uns noch die übergebenen Lagersachen befehlsgemäß mit. Doch bald wurde das immer beschwerlicher, und eine ganze Reihe, besonders der Jüngeren, begann, sich der zusätzlichen Bürde zu entledigen. Sie ließen sie einfach fallen und auf der Strasse liegen. So war der Weg vom Lager bis zum Bahnhof regelrecht besät mit KK-Gewehren, Säcken mit Bettzeug, Marinekleidung, Morselampen, Signalflaggen und was sonst noch so alles bei der Auflösung eines Wehrertüchtigungslagers mitgeschleppt werden musste. Auf dem Bahnhof erwartete uns nicht etwa ein Personenzug mit angehängten Waggons für die Sachen. Auf den Schienen stand vielmehr ein Flak-Zug, der den Auftrag hatte, uns aus der Gefahrenzone herauszubringen. Natürlich war die Räumlichkeit auf dem Zug, der ja für aktive Kampfhandlungen eingerichtet war, sehr beengt. Selbst von den wenigen Sachen aus dem Lager, die einige von uns bis zum Bahnhof mitgeschleppt hatten, musste noch ein Teil zurückbleiben. Deshalb hatte ich auch keine Skrupel, den blauen Marinepullover aus der Kleiderkammer des Lagers einfach zu behalten. Jeder von uns suchte sich in den gepanzerten Waggons eine Lücke, in die er sich hineinquetschen konnte. Ich fand mein Unterkommen im Generatorenbereich, welcher der Stromversorgung der Zielgeräte, der Scheinwerfer u.s.w. diente. Hier war es zwar sehr geräuschintensiv und stickig, dafür aber mollig warm. Ich klemmte mich mit meinem Köfferchen in ein freies Plätzchen und machte es mir so bequem wie möglich. Nach einer unruhigen Nacht, der Zug hielt oft für längere Zeit auf freier Strecke, rangierte mehrmals, fuhr auch hin und wieder ein Stück zurück, waren wir an unserem Zielbahnhof, Posen, angekommen. Kaum hatten wir unser recht unbequemes Transportmittel verlassen, machte sich das waffenstrotzende Gefährt wieder auf den Weg an die Front. Wir aber sahen zu, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Ich muss sagen, wir hatten großes Glück gehabt, dass wir unbeschadet aus Lautenburg weggekommen sind, denn als wir in Posen ausstiegen, es war Sonntag, der 19. Januar 1945, hatten die sowjetischen Truppen Lautenburg schon erobert.
- Karte von den Kämpfen in Ostpreußen Ende 1944 / Anfang 1945 (Auszug)
Aus: Dieckert/Großmann, Der Kampf um Ostpreußen1944/45, Motorbuch-Verlag
Der Pfeil zeigt auf Lautenburg ( .......................Frontverlauf am 21. Januar 1945)
vorherige Seite | Seite 93 von 164 | nächste Seite |