MARINE - HJ

Endlich war mein lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen: Ich war Mitglied der Marine-Hitlerjugend geworden. Hauptstammführer Fünfstück hatte sein Versprechen von Nipter eingelöst und mich in diese Sondereinheit des nazistischen Jugendverbandes eingegliedert.

Freudig erregt begab ich mich auf den Weg, um am ersten Dienst teilzunehmen. Die Gefolgschaft machte ihre Ausbildung, wenn ich mich richtig erinnere, in ihrem Heim am Anger. Dort traf ich Manfred Knippert, einen alten Bekannten, der sich um mich, dem Neuen, gleich fürsorglich kümmerte und mir half, die Anfangsschwierigkeiten schnell zu überwinden.

Manfred Knippert
Das war auch notwendig, denn die Einheit befand sich in der Vorbereitung auf die Kreisjugendwettkämpfe und die Mitglieder waren mitten in den Prüf-ungen zur Erlangung des A-Leis-tungsscheins in Seemannschaft. Auf dem Hof des Heims war eine Gruppe der angehenden jungen Matrosen dabei, einen Strick, an dem ein mit Sand ge-fülltes Säckchen aus Segelleinen be-festigt war, so weit wie möglich zu werfen und dabei genau ein vor-gegebenes Ziel zu treffen. Dazu riefen sie laut: ‚Warschau, Warschau, Wurf-leine‘. Manfred erklärte mir Laien: „Hier wird das Werfen von Wurfleinen geübt. Man wirft erst ein dünnes Seil, damit kommt man weiter. Daran kann dann eine dicke Trosse befestigt und mit der Wurfleine von einem Schiff zum anderen gehievt werden. Der Ruf Warschau hat mit der polnischen Stadt nichts zu tun, sondern bedeutet in der Seemannssprache weiter nichts wie Achtung.“
Ich versuchte es auch einmal mit der Wurfleine und stellte fest, so einfach wie es aussah war es wirklich nicht, hier hatte ich noch viel zu üben. An einer anderen Stelle waren drei Gruppen im Wettstreit, wer an einem mindestens 5 Meter langen, dicken Strick am schnellsten eine große Schlaufe knüpfen kann. Mit beiden Händen das Strickende gefasst, schlugen sie eine Schlinge. Dann rannten sie ans andere Strickende, zogen es nach einem bestimmten System durch die Schlinge und zogen das Ganze fest, so dass ein Auge am Ende der Leine entstand.
„Das, was die Jungen hier machen“, erläuterte mir Manfred eifrig das Geschehen, „ist ein Seemannsknoten, den man Palstek nennt. Die Schlaufe darf sich nicht zuziehen. Sie dient dazu, Schiffe am Kai an Pollern fest zu machen. Das musst du dir von Anfang an merken: Seemannsknoten zeichnen sich dadurch aus, das sie gut halten und sich auch nach starker Belastung relativ leicht wieder lösen lassen.“
Auch hier durfte ich einen Versuch wagen. Was ich fertig brachte, hatte mehr Ähnlichkeit mit einer verhedderten Wäscheleine als mit einem Seemannsknoten.
„Lass man“, beruhigte mich Manfred, „das lernst du schon alles noch. Schließlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!“
Im Gegensatz zur Pflicht-HJ mit ihrem stupiden Dienst und der zermürbenden Schleiferei machte mir die Ausbildung in der Marine-HJ richtig Spaß, obwohl sie auch kein Zuckerschlecken war und mir Anfangs doch einige Schwierigkeiten bereitete. Aber ich wusste, hier konnte ich mir die erforderlichen seemännischen Kenntnisse aneignen, die ich bei der Kriegsmarine brauchte, zu der ich mich schon während der Schulzeit freiwillig gemeldet hatte, um dem Werbedruck der Waffen-SS zu entgehen.
Daran kann man erkennen: Indem die Nazis mit bestimmten Sondereinheiten, wie Nachrichten-, Motor-, Flieger- oder Marine-HJ die speziellen Interessen der Jugendlichen ansprachen, bewegten sie viele dazu, mit Freude Dienst zu tun, die zuvor, so wie ich, eine große Abneigung gegen die Dienstpflicht der HJ an den Tag gelegt hatten.
Das Schönste aber war die schneidige dunkelblaue Uniform der Marine-HJ, die ich nun tragen durfte. Ich muss hier unverhohlen eingestehen, es war die erste vollständige eigene Uniform, seit ich 1939 ins Jungvolk gekommen war. Und ich war damals mächtig stolz darauf! Von Manfred erhielt ich auch dazu eine Reihe guter Tipps, wie man die Uniform aufpeppen konnte, um sie noch schicker zu machen. So wurde das Mützenband, in dem ‚Marine-Hitlerjugend‘ eingestickt war, um einen halben Meter verlängert. Dadurch flatterten die Enden wirkungsvoller im Winde. Das Blauhemd musste so eng sein, dass man alleine nicht in der Lage war, es an- und auszuziehen. Den Knoten ins seidene blaue Halstuch zu binden war nicht einfach. Wenn man ihn einmal gut geknüpft hatte, war man stets bemüht, obwohl es natürlich verpönt war, das Halstuch über den Kopf zu ziehen, ohne den Knoten lösen zu müssen. Auch mit der weißen Fliege, die den Knoten zierte, wurde getrickst. Wir banden sie nicht, wie gefordert, jedes Mal neu, sondern fertigten uns eine Schummelfliege, die man einfach hinter dem Knoten mit einem Druckknopf zusammen hielt. Besonders viel Mühe verwandten wir auf die Seemannshose. Wichtig war vor allem ein weiter Schlag, das heißt, die Hosenbeine mussten so breit sein, dass, wenn man stand, die Schuhe verdeckt wurden.
Ich in der flotten Marine-HJ Uniform
Deshalb musste mir meine Mutter breite Keile in die
Hosenbeine einsetzen. Damit der hintere Rand vom Laufen nicht ausfranste, nähten wir uns halbe Reißverschlüsse an den Saum. Auch die Bügelfalte musste haarscharf sein. Um uns das ständige Bügeln zu sparen, hatten wir uns Sperrholzkeile angefertigt, die vorn und hinten scharf zugespitzt waren und genau in die Hosenbeine passten. Hin und wieder wurden die Hosenbeine mit den Sperrholzteilen darin über einem Topf mit kochendem Wasser gedämpft und so die Bügelfalten immer in Form gehalten.
Unsere Einheit besaß auch zwei Kutter, die aber, es war ja schon Spätherbst, kieloben im Bootshaus an der unteren Neiße lagerten. Es war ein Kutter zum rudern, und ein etwas größerer mit Segeleinrichtung.
Bei unserem Besuch im Bootshaus erzählte mir Manfred voller Begeisterung von ihren Kutterfahrten im Sommer nach Ratzdorf, wo die Neiße in die Oder mündet. So eine Fahrt dauerte immer einen ganzen Tag; eine Stunde stromabwärts und dann sieben Stunden stromaufwärts. Er räumte aber freimütig ein, dass die Rückfahrt jedes Mal eine schlimme Plackerei gewesen war. Von dem stundenlangen Rudern war bei vielen der Bast von den Händen runter und die offenen Stellen schmerzten fürchterlich. Wenn die Sonne erbarmungslos brannte, war auch der Durst unerträglich. Um die Strapazen einigermaßen zu überstehen, hängten einige heimlich ihr Taschentuch ins Wasser, saugten es aus und legten sich anschließend das feuchte Tuch auf den Kopf, um ein wenig Kühlung zu bekommen.
Ich bin in meinem Leben nie mit einem Kutter gerudert. Zu meiner Schande muss ich aber gestehen, dass ich die Geschichte von Manfred, aus reiner Angeberei, später oft so erzählt habe, als ob ich diese Ruderpartien nach Ratzdorf selber erlebt hätte.
Was tut man als Jugendlicher nicht alles, um vor anderen zu wirken!!!
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