FACHARBEITERPRÜFUNG
Mein Lehrvertrag sah eine Lehrzeit von dreieinhalb Jahren vor. Ich durfte aber schon nach knapp zweieinhalb Jahren meine Facharbeiterprüfung machen. Nicht etwa, weil ich ein so hervorragender Lehrling war, sondern, weil die Nazis Kanonenfutter für ihren Krieg brauchten.
Die damalige Prüfungsordnung sah für die praktische Facharbeiterprüfung einen Arbeitstag vor. Bei der Fertigkeitsprüfung (heute heißt es wieder: Anfertigung eines Gesellenstücks) war die Aufsicht eines Meisters erforderlich. Da mein Lehrausbilder nur Geselle war, musste ich zur Fertigkeitsprüfung in die Maschinenfabrik und Eisengießerei A. Donath in der Bahnhofstrasse, in der ein Modelltischlermeister arbeitete. Mit einem sauberen Arbeitsanzug in der Aktentasche und etwas Schiss in der Hose begab ich mich am Prüfungstag zum Betrieb, um dort meine Kenntnisse des Modelltischler-Berufes unter Beweis zu stellen. Der Pförtner brachte mich in die Modelltischlerei. Sie war in einem großen Raum über der Schlosserei untergebracht. Obwohl von zwei Reihen Fenster erhellt, wirkte sie auf mich, sicher wegen des auf mich lastenden Prüfungsdrucks, aber wahrscheinlich auch wegen der verstaubten, altersgedunkelten Wände, irgendwie düster-beklemmend. Mir blieb nicht lange Zeit, mich dieser bedrückenden Stimmung hinzugeben. Der Meister, eine ältere, respektable Arbeiterpersönlichkeit nahm mich in Empfang.
„So, mein Junge“, sagte er freundlich, wobei er mich wohlwollend musterte „hier an dieser Hobelbank kannst du arbeiten und im Schrank dort findest du das notwendige Werkzeug. Deine Aufgabe besteht darin, für dieses Werkstück“, er deutete auf die technische Zeichnung, die auf der Hobelbank lag, „das Modell anzufertigen. Das Holz, welches du dazu benötigst, habe ich dir schon zugeschnitten.“ Nach dieser kurzen Einweisung ließ er mich allein.
Zuerst nahm ich das Werkzeug in Augenschein und schärfte Hobel und Stecheisen. Dann studierte ich die technische Zeichnung. Auf ihr war eine Gehäuse-Abdeckung dargestellt, die aus Grauguss gefertigt werden sollte. Danach stellte ich, so wie ich es gelernt hatte, eine maßstabgerechte Arbeitszeichnung her, welche die formtechnischen Erfordernisse enthielt, die Schwindmaße für Grauguss berücksichtigte und die notwendigen Bearbeitungszugaben auswies. Sie bildete die Grundlage für die benötigten Schablonen zum Drechseln des Modellkörpers, die ich mir aus starker Pappe zuschnitt. Dann machte ich mich an die Arbeit. Da Drechseln eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war, hatte ich ruckzuck, dass die Späne nur so flogen, an der Drechselbank aus dem zugeschnittenen Holzstück die erforderliche Form des Modells herausgearbeitet und spiegelglatt abgeschliffen. Auch die drei flanschartigen Ansätze für die künftigen Bohrungen zur späteren Befestigung des Gussteils waren schnell gefertigt und angepasst. Als ich sie am Außenrand des Modells anleimen wollte, bekam ich ein Problem, mit dem ich nicht gerechnet hatte und das mich arg in Verlegenheit brachte. Ich war es gewohnt, im Modellbau Warmleim zu verwenden. Er band schnell ab und man konnte nach kurzer Zeit am Werkstück weiterarbeiten. In der hiesigen Modelltischlerei fand ich keinen Topf mit Warmleim. Auf meine Frage eröffnete mir der alte Meister: „Wir haben nur einen großen Werkstattofen. Ihn nur zum Leim wärmen anzuheizen, wäre im Sommer unerträglich und wegen des hohen Brennstoffverbrauchs auch sonst nicht sinnvoll. Da man auch nicht immer Leim benötigt, arbeiten wir hier mit Kaltleim.“
Was sollte ich tun; ich musste mich mit der Gegebenheit abfinden. Ich versuchte also, die flanschartigen Ansätze mit Kaltleim anzuleimen. Kaltleim braucht in der Regel 24 Stunden zum Abbinden. Ich hatte aber nur noch 3 Stunden Zeit zur Verfügung. Nach 2 Stunden Wartezeit versuchte ich, an meinem Modell weiter zu arbeiten; ich musste ja noch die Übergänge von den Ansätzen zum Modellkörper befeilen und mit Kitt die Hohlkehlen anbringen. Aber die Dinger waren noch nicht fest, verrutschten und lösten sich immer wieder. Ich hätte verzweifeln können. Schließlich entschloss ich mich, die Ansätze mit kleinen Nägeln zu befestigen. Jetzt schon etwas unter Zeitdruck, versäumte ich, die Löcher für die Nägel vorzubohren. Die Folge war, dass das Holz platzte und ich zwei dieser Ansätze neu fertigen musste. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als dem Meister das halbfertige Modell abzuliefern und ihm meine dazu gefertigten Modellrisse und Schablonen auszuhändigen. Ich hatte mein Bestes gegeben, aber zufrieden war ich mit meiner Arbeit nicht! Geknickt verließ ich die Stätte meines Wirkens und war voller Zweifel, ob ich die Fertigungsprüfung bestanden hatte. Da ich keine Mitteilung bekam, dass ich bei der Facharbeiterprüfung durchgefallen sei, musste wohl alles gut gegangen sein. Vielleicht hatte der alte Meister meine Fertigkeiten wohlwollend nach dem Motto beurteilt: Die Bemühungen werden anerkannt, auch wenn das Ergebnis schwach!
An der Berufsschule gab es auch noch eine theoretische Kenntnisprüfung vor einer Kommission. Sie verlief ohne Komplikationen, denn auf fachlichem Gebiet war ich sicher und hatte fundiertes Wissen. Und dass Gewerbeoberlehrer Püschel Mitglied der Prüfungskommission war, gab mir noch zusätzlich Sicherheit. Aber ein Nazibonze als Beisitzer versuchte doch in hinterhältiger Weise, ohne dadurch das positive Prüfungsergebnis in Frage zu stellen, mir die Lückenhaftigkeit meiner nationalsozialistischen Kenntnisse vor Augen zu führen.
„Kannst du mir sagen, was Milch ist?“, fragte er scheinheilig.
Etwas irritiert begann ich, ihm das Kuhprodukt Milch, so gut ich es wusste, zu erläutern Abrupt unterbrach er mich. „Das ist alles Quatsch, was du da faselst. Als. deutscher Junge müsstest du doch wissen: M i l c h ist General unserer hel-
denhaften Luftwaffe.“
Die vorzeitige Facharbeiterprüfung, egal ob bestanden oder nicht, hatte keinen Einfluss auf mein weiteres Lehrlingsdasein. Der Lehrvertrag blieb weiterhin voll gültig. Er wurde nur durch kriegsbedingte Einsätze unterbrochen.
Als ich im September 1945 aus Gefangenschaft kam und mich in meinem Lehrbetrieb, Maschinenfabrik und Eisengießerei Wilhelm Quade GmbH, zurück melden wollte, existierte er nicht mehr. Im Rahmen der Reparations-verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion war er demontiert worden. Ein ehemaliger Angestellter, der sich in einem halbleeren Büro zu schaffen machte und mich von früher her kannte, rief mich zu sich und übergab mir meinen Facharbeiterbrief. Er hatte ihn in einem Aktenschrank entdeckt und an sich genommen. So erhielt ich, lange nach dem Untergang des Dritten Reiches, von ihm amtlich besiegelt, ein Dokument, dass ich meine Facharbeiterprüfung als Modelltischler erfolgreich abgelegt hatte.
- Mein Facharbeiterbrief
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