RUSSKIJ
Je prekärer für die deutschen Faschisten die Lage an den Fronten wurde, desto größere Anstrengungen unternahmen sie, um auch die letzten verfügbaren Reserven aufzubieten. Unter der Losung der totalen Mobilmachung wurde jede Beschränkung der Arbeitszeit aufgehoben, wurden alle Männer von 16 bis zu 65 und alle Frauen von 17 bis zu 45 Jahren zum Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie verpflichtet, wurden zahllose Geschäfte, Handwerksbetriebe und kleine und mittlere Unternehmungen und später sogar Theater, Kinos und Gaststätten geschlossen, um Arbeitskräfte und Soldaten zu gewinnen. Selbst Kriegsgefangene wurden immer stärker eingesetzt, um die durch den Krieg gerissenen Lücken zu schließen.
Auch in Guben gab es ein Lager, in dem arbeitsfähige sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren, die in den verschiedensten Betrieben zum Einsatz kamen. Frühmorgens marschierte die Truppe unter Bewachung durch die Stadt und wurde auf die Betriebe aufgeteilt, wo sie tagsüber arbeitete, ohne bewacht zu werden. Zu Feierabend sammelte dann die Wachmannschaft die einzelnen Gruppen wieder ein und führte sie ins Lager zurück. Auch unserer Gießerei war so ein Trupp sowjetischer Kriegsgefangener als Hilfsarbeiter zugeteilt worden.
Ich befand mich zufällig am Betriebstor, als die Kriegsgefangenen das erste Mal anrückten. Vier ausgemergelte, zerlumpte Gestalten lösten sich aus der Gruppe und wurden vom Chef des Wachkommandos an den Leiter der Gießerei übergeben. Einer von ihnen, er sprach ein wenig Deutsch, wurde als Natschalnik eingesetzt. Nach der gut gemeinten Aufforderung: „Nu, Russkij, dawei!“ trotteten die Vier an mir vorbei in die Gießerei. Sie gaben sich zwar gleichgültig, aber die Ungewissheit darüber, was sie hier erwartet, bedrückte sie wie eine unsichtbare Last, man konnte es sogar als Außenstehender deutlich spüren.
Es war meine erste Begegnung mit Russen. Trotz ihrer zerschlissenen Uniformen und der ungesunden Gesichtsfarbe wirkten sie auf mich nicht wie bolschewistische Untermenschen, wie sie uns von der nazistischen Gräuelpropaganda immer geschildert worden waren. Obwohl sie ja eigentlich unsere Kriegsgegner waren, empfand ich auch keine feindseligen Gefühle ihnen gegenüber; im Gegenteil, ich konnte ein freundliches Lächeln nicht unterdrücken, als sie an mir vorbei gingen. Das kam für sie höchstwahrscheinlich unerwartet, trug aber sicher dazu bei, ihnen ein wenig die anfängliche Beklemmung zu nehmen.
Für die ,Iwans‘, wie sie im Betrieb allgemein genannt wurden, war die Arbeit in der Gießerei ungewohnt und auch nicht leicht. Dazu kam die Sprachbarriere, was die Sache auch nicht einfacher machte. Aber der größte Teil der Arbeiter behandelte sie nett und freundlich und es war erkennbar, dass sie sich bei uns wohlfühlten.
Der Natschalnik, ein pfiffiges Kerlchen, kam regelmäßig in die Tischlerei, um Späne und Holzabfälle zum Anzünden des Gießereiofens zu holen. Hin und wieder konnte ich beobachten, wie Herr Lehmann, mein Lehrgeselle, ihm heimlich einen Kanten Brot, ein paar Kartoffeln oder einige Zigaretten in seinen Korb legte, bevor der ihn mit dem Brennmaterial füllte. Ich fand das höchst Anständig, denn soviel Zivilcourage hätte ich diesem grantigen Kerl wirklich nicht zugetraut. Auch andere Tischler solidarisierten sich in dieser Art verstohlen, man musste ja vorsichtig sein, mit den Kriegsgefangenen. Diese kleinen Gaben teilten die Gefangenen stets kameradschaftlich untereinander auf.
Manchmal traf ich mit dem Russen zufällig auf der Treppe zusammen und wir wechselten, er konnte ja etwas Deutsch, ein paar Worte miteinander. Dadurch entwickelte sich zwischen uns ein gewisses Vertrauensverhältnis. Ich erfuhr, dass er Vitali hieß, Bauingenieur war und aus Moskau kam. Seine Frau und seine beiden Töchter hatte er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen und wusste auch nicht, was aus ihnen geworden war. Als er meinen Vornamen kannte, nannte er mich Wanja, wobei er immer spitzbübisch lächelte.
In ihrer Freizeit im Lager bastelten die Kriegsgefangenen recht kunstvolle Dinge, die sie uns zum Tausch gegen Lebensmittel und Tabakwaren anboten. Vitali stellte zum Beispiel aus Aluminium-Rohr-Abfällen wunderschöne Ringe her, auf deren Siegelplatten er sogar mit einem alten, zurechtgefeilten Nagel, Monogramme eingravierte.
„Wanja“, fragte er mich eines Tages, „kannst du mir nicht alte Zahnbürsten besorgen?“
„Wozu brauchst du die denn?“, wollte ich von ihm wissen.
„Aus den Stielen kann man herrliche farbige Steine für die Ringe machen“, erklärte er mir verschmitzt grinsend. Zum Beweis kramte er einen Ring aus der Tasche, den ein roter Stein aus so einem Zahnbürstenstiel zierte.
Not macht eben erfinderisch!
Ich besorgte Vitali 5 alte verschiedenfarbige Zahnbürsten und erhielt dafür den Ring mit dem roten Stein, mit dem ich meiner Freundin eine Freude bereiten konnte.
Auch Holzschnitzereien wurden zum Tausch angeboten. Besonders schön war eine Taube, deren Schwanz und Flügel aus Holzstücken bestanden, die aufgespaltet und fächerartig auseinandergebogen und beweglich am Körper des Vogels befestigt waren.
Als ich Vitali einmal erzählte, dass ich eine Ziehharmonika besitze, fragte er mich, ob ich sie nicht mal in den Betrieb mitbringen könne und ihn darauf spielen ließe.
Ich tat ihm den Gefallen. An einem Nachmittag trafen wir uns heimlich im Versammlungsraum, der sich eine Etage über der Tischlerei befand und fast immer leer stand. Um nicht entdeckt zu werden, spielte er leise, aber gekonnt auf meiner Quetschkommode alte russische Weisen, wobei seine Augen dankbar strahlten.
„Wanja, ich denke oft an meine Heimat und habe großes Heimweh“, sagte er mit Rührung in der Stimme, als er mir meine Harmonika wieder zurück gab. „Hoffentlich ist der Krieg bald aus und ich kann wieder nach Hause. Du bist ein guter Mensch und ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute.“
Es war das letzte mal, das wir uns sahen.
Die Ostfront rückte immer näher. Unvermittelt hörten die Arbeitseinsätze der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Betrieben auf und das Lager in Guben wurden aufgelöst.
Was aus unseren vier ,Iwans‘ wurde, ist nicht bekannt. Und ob Vitali und seine Kameraden je ihre Heimat wiedergesehen haben, kann niemand sagen. In Erinnerung geblieben ist lediglich ein Stück gelebte Menschlichkeit inmitten eines grausamen Krieges.
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