BESONDERES KENNZEICHEN
Die unteren Klassen in der Klosterschule in Guben waren zu meiner Zeit noch mit ganz alten Schulbänken ausgestattet. Vier Schüler saßen in einer Bank, die aus einer durchgehenden Sitzfläche und einem Schreibpult bestand. Unter der Arbeitsplatte waren Fächer für die Schulmappen, und für jeden Schüler war am oberen Rand ein Tintenfass eingelassen. Nur die letzte Bank besaß eine Rückenlehne, für die anderen war die Vorderseite des Pults der hinteren Bank jeweils die Rückenlehne. Den Bänken sah man ihr hohes Alter schon äußerlich an. Das Holz hatte sich in den Jahren dunkel gefärbt. In den Schreibplatten war durch Generationen von Schülern so manche Kerbe geschnitten und eine Vielzahl von Buchstaben und Zeichen eingeritzt worden, so dass sie mehr verschmutzten Hieroglyphentafeln der alten Pharaonen glichen, als ehrwürdigen Schulbänken. Hunderte von Kinderärsche hatten die Sitzflächen der Bänke poliert und abgenutzt. Dadurch war die Maserung des Holzes nicht nur zu sehen, sondern auch zu spüren, denn unsere Hosenböden hatten das weiche Splintholz zwischen den Jahresringen nach und nach vollständig weggeschliffen. Mit unseren kleinen Fingern konnten wir mühelos Holzstückchen herausbrechen und damit spielen, wenn uns der Unterrichtsstoff langweilte. Dadurch bildeten sich da und dort auf den Bänken gefährliche Spitzen von abgesplittertem Holz.
Eine solche Spitze wurde mir zum Verhängnis. Ich hatte einen Bleyle-Anzug an, als es passierte.
‚Bleyle‘ war damals ein Markenzeichen für Feinstrickwaren. Meine Eltern waren sehr stolz darauf, dass sie mir einen solchen Anzug – kurze Hose und Pullover – gekauft hatten, denn er war nicht billig gewesen. Dennoch hasste ich ihn und zog ihn nur ungern an, denn er kratzte unbändig. Aber er hatte auch sein Gutes. Auf dem glattpolierten Holz der Schulbank ließ es sich mit ihm prima hin- und herrutschen.
In einer Pause, wir durften in der Klasse bleiben, weil es draußen in Strömen regnete, war ich eifrig dabei, unter Ausnutzung des glatten Hosenbodens meiner Bleyle-Hose mit vollem Schwung von einer Seite der Schulbank auf die andere zu rutschen. Andere Schulkameraden machten es mir nach, und so entwickelte sich ein regelrechter Wettkampf, wer in seiner Bank am weitesten rutschen konnte.
Plötzlich, ich hatte gerade wieder ordentlich Schwung geholt, wurde meine Rutschpartie ruckartig gebremst und ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Hintern. Ein abgelöster Holzspan hatte sich mit seiner Spitze mit voller Wucht in meine linke Pobacke gebohrt und blieb darin stecken. Ich war ganz froh, dass der Splitter noch etwas herausragte, so dass ich ihn mit Daumen und Zeigefinger packen und, wie ich glaubte, auch herausziehen konnte. Da die Pause zuende war, hatte ich sowieso keine Möglichkeit mehr, mich weiter um den Stachel in meinem Hintern zu kümmern, obwohl der Einstich ganz schön schmerzte.
Zu Hause erzählte ich meiner Mutter von dem Malheur, das mir in der Schule widerfahren war.
„Komm, zeige mir mal die Stelle“, forderte sie mich besorgt auf. „Ich glaube, da steckt noch ein Stück Holzsplitter drin, man kann ihn noch fühlen“, tat sie kund, nachdem sie die geschundene Pobacke genau beschaut und die Einstichstelle vorsichtig abgetastet hatte.
Mit einer ausgeglühten Nadel versuchte sie, den Fremdkörper zu entfernen. Es gelang ihr, ein kleines Stückchen des morschen Holzes herauszuholen.
„Wir haben ihn“, verkündete sie erfreut, und zeigte mir das kleine Splitterchen.
Leider frohlockte meine Mutter zu früh, denn bei einem nochmaligen Stochern stieß die Nadel erneut auf Widerstand. Doch hier endete das Bemühen meiner Mutter, denn der Rest des Splitters saß so tief, dass sie mit der Nadel nichts mehr ausrichten konnte. Um einer Blutvergiftung vorzubeugen, schickte sie mich doch lieber zum Arzt.
Nachdem sich Dr. Schmidt den betreffenden Körperteil mit sachkundigem Auge betrachtet hatte, bestätigte er, dass die Sorge meiner Mutter nicht unberechtigt wäre. Wie der Arzt feststellte, war der Holzsplitter nicht flach unter die Haut gegangen, sondern hatte sich senkrecht in mein Sitzfleisch gebohrt.
„Da werden wir wohl ein wenig schneiden müssen“, war seine Schlussfolgerung. Ich musste mich über die im Behandlungsraum stehende Liege beugen. Ehe ich es mir versah, hatte ich auch schon die Nadel einer Betäubungsspritze im Fleisch. Nachdem die betäubende Wirkung der Spritze eingesetzt hatte, ging der Arzt mit dem Skalpell zu Werke, um mich von dem tief im Fleisch sitzenden Holzspieß zu befreien. Ein kleiner Schnitt und schon konnte der Arzt mit der Pinzette ein morsch-bröckelndes Stückchen Splitter von etwa einem Zentimeter Länge herausbefördern.
„Das scheint aber noch nicht alles zu sein“, bemerkte der Doktor skeptisch, nachdem er in der Schnittstelle mit dem Skalpell erneut den Widerstand von etwas hartem spürte. „Da werden wir wohl noch ein bisschen tiefer schneiden müssen“, war der Kommentar zu seiner Feststellung.
Auf diese Weise förderte der Arzt in Etappen insgesamt acht Stücke des Splitters von je einem Zentimeter Länge zu Tage.
Ich hatte mir also in meinem Übermut einen ansehnlichen Holzsplitter von insgesamt neun Zentimeter Länge in meine Arschbacke gerammt.
Das Ergebnis: Eine schmerzende Wunde, Schwierigkeiten beim Sitzen, zwei Wochen schulfrei, und – weil der Arzt nicht genäht, sondern nur gepflastert hatte – für mein ganzes Leben eine unübersehbare, einen Zentimeter breite und acht Zentimeter lange Narbe als besonderes Kennzeichen.
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