KOPFRECHNEN

Zu meiner Schulzeit gab es das Fach Mathematik nur in der Oberschule. In der Volksschule, die ich besuchte, hatten wir nur Rechenstunden. Unser Rechenlehrer an der Klosterschule war Herr Rode. Ich glaube, er war gar kein richtiger Lehrer. Es wurde gemunkelt, dass er aus der Reichswehr kam und ein abgedankter Hauptmann war. Mit seinem roten Stiernacken konnte man ihn sich so richtig als Rekrutenschinder vorstellen. Auch als Lehrer ersetzte er den Mangel an pädagogischen Kenntnissen durch die Zucht seines daumendicken Rohrstocks, den er notfalls skrupellos handhabte. Deshalb haben wir ihn sehr gefürchtet. Er hatte auch eigenartige Methoden, uns das Rechnen beizubringen. Wenn er zum Beispiel zu Beginn der Rechenstunde Horst, einen buckligen und stotternden Jungen, der schon drei Mal sitzen geblieben war, nach vorn rief, ihm zwanzig Pfennig in die Hand drückte, und ihn in die nahe Drogerie schickte, um eine Tüte Hustenbonbon – die leckeren goldgelben Pflastersteine aus Fenchel-honig – zu kaufen, dann wussten wir: Heute ist Kopfrechnen dran!

Bis Horst mit den Hustenbonbon wieder da war, wertete Herr Rode meist schriftliche Rechenarbeiten aus.
Doch dann ging es los!
Lehrer Rode, in der linken Hand die Tüte mit den Hustenbonbon, in der rechten Hand den Rohrstock, stand wie ein drohender Gott vor uns auf dem Katheder. Unsere Lehrer hatten nicht, wie heute, Tisch und Stuhl, sondern thronten auf einem Podest hinter ihrem Katheder. Herr Rode stand jetzt da oben über uns. Wir in unseren Schulbänken, damals solche, wo immer vier Schüler in einer Bank saßen, ängstlich geduckt und auf das Schlimmste gefasst, unter ihm.
Dann verkündete Herr Rode, was wir schon längst wussten: „Wir werden heute ein wenig Kopfrechnen. Ich sage die Aufgabe. Melden braucht ihr euch nicht. Ich bestimme selbst denjenigen, der uns die Lösung sagen wird. Alles klar???“
Unser Lehrer erwartete von uns keine Zustimmung. Er begann sofort, die erste Rechenaufgabe zu stellen: „7 x 8 ?“
Eigenartig! Wir konnten noch so fleißig das Einmaleins gepaukt haben, wenn Herr Rode mit dem Rohrstock und der Hustenbonbontüte in den Händen über uns stand, waren unsere Köpfe hohl wie taube Nüsse. Jeder hoffte, dass ein anderer dran käme, aber jeder wusste auch, einen trifft das Los unausweichlich.
„Lassnack!!!“, kam die Aufforderung an den auserkorenen Schüler, unterstrichen durch den Rohrstock, der, jeden Zweifel ausschließend, auch noch auf ihn wies, „was kommt raus?“
Rudi, vor Schreck ganz blass, stand auf und, zweifelnd, ob das was er sagte auch richtig sei, kam seine Antwort mehr als Frage: „56 ?“
„Richtig!“
Man konnte das erlösende Aufatmen von Rudi hören.
Herr Rode sprang vom Katheder über die Bänke bis zu Rudi und gab ihm zur Belohnung für die richtige Antwort einen Hustenbonbon.
So etwas war aber recht selten. Meistens kamen die Schüler nicht auf die richtige Lösung. Dann sprang Herr Rode auch über die Bänke bis zu dem Schüler, der gerade dran war. Der bekam aber keinen Hustenbonbon überreicht, sondern mit dem Rohrstock einen Hieb über den Rücken.
Zuckerbrot und Peitsche, diese Kolonialmethode war es, die unser Rechenlehrer bei uns anwandte. Das Verhältnis von Zuckerbrot zu Peitsche war bei Herrn Rode etwa 1:5, das heißt, auf einen Hustenbonbon kamen fünf Rohrstockhiebe. Keinen wunderte es, dass am Ende der Stunde nur ganz wenige Hustenbonbon aus der Tüte fehlten. Uns aber hatte Herr Rode spürbar zu erkennen gegeben, wie wenig wir doch wussten.
Ich glaube, jeder wird verstehen, warum uns Rechnen damals keinen Spaß gemacht hat, und wir vor jeder Rechenstunde einen Graus hatten. Um so erstaunenswerter ist es, dass die meisten von uns trotzdem recht gut rechnen gelernt haben. Das Leben ist eben doch ein besserer Lehrer, als unser Rechenlehrer, Herr Rode.
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