ICH WERDE STADTKIND
Egal, ob Früh-, Spät-, oder Nachtschicht, und egal welches Wetter, zwei mal am Tage mussten meine Eltern mit dem Fahrrad die 7 Km zwischen Wallwitz und Guben fahren. Das zehrte an den Kräften. Den Ausschlag dafür, dass wir nach Guben zogen, gab aber der harte Winter 1934/35. Um auf dem Fahrrad ein wenig gegen die eisige Kälte anzukommen, hatten meine Eltern sowohl über die Handschuhe, als auch über ihre Schuhe Wollsocken gezogen, zwischen Hemd und Jacke Zeitungspapier gestopft, und meine Mutter hatte sich zusätzlich von meinem Vater über ihre Makko-Strümpfe lange Unterhosen und ein Paar alte Kordhosen gezogen. Trotzdem war meine Mutter, besonders während der Nachtschichten, nach solchen Fahrten jedes Mal einer Ohnmacht nahe.
„Otto“, sagte sie zu meinem Vater resigniert, „so kann das nicht weitergehen. Ich halte das nicht mehr aus. Entweder wir sehen zu, dass wir nach Guben ziehen können, oder ich muss kündigen. Dann müssen wir uns eben mit deinem Verdienst einrichten.“
Mein Vater sah das ein, und versuchte, recht schnell eine Wohnung zu bekommen. Dabei kam ihm ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Die Firma F.W.Schmidt, der Betrieb, bei dem meine Eltern arbeiteten, hatte in der Grünstrasse 1 aus alten Betriebsgebäuden Wohnungen für Betriebs-angehörige geschaffen. Dort wurde eine Wohnung frei. Durch Fürsprache meines Großvaters in Atterwasch, der den alten Schmidt gut kannte, weil er dort sein Jagdgebiet hatte, bekamen meine Eltern diese mietgünstige Wohnung zugesprochen. Der Umzug war für den Herbst vorgesehen.
Vorher aber versuchten meine Eltern, mich auf diesen Umzug vorzubereiten, indem sie mich öfter nach Guben mitnahmen. Ich durfte bei schönem Wetter mit meinem Vater auf dem Fahrrad mitfahren. Dazu hatte er auf der Querstange einen Kindersattel befestigt und an der Vorderradgabel für mich Fußrasten angeschraubt, damit ich sicher saß. Festhalten durfte ich mich an seiner Lenkstange. Für mich war es immer ein pures Vergnügen, so durch die Lande zu gondeln. Bei schlechtem Wetter fuhren wir aber manchmal mit der Eisenbahn, was auch seine Reize hatte. Wenn ich mich richtig erinnere, begannen für mich die Stadtbesuche schon mit der 700-Jahr-Feier der Stadt Guben am 9. Juni, an der wir gemeinsam teilnahmen. Ich habe noch plastisch den historischen Festumzug vor Augen. Nachmittag waren wir dann bei einem Arbeitskollegen meines Vaters zum Kaffee eingeladen.
Auch ins Kino sind meine Eltern hin und wieder mit mir gegangen.
Ein Film ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, weil in ihm der Hauptdarsteller, Basta Keaton, in schwindelnder Höhe an dem großen Zeiger einer Uhr hing und nur knapp einem Absturz von diesem Wolkenkratzer in die tief unter ihm befindliche, mit Autos voll gestopfte, Straßenschlucht entging. Aber auch Filme mit Pat und Patachon, mit Shirley Temple und mit Micky-Maus konnte ich mir in den verschiedenen Gubener Kinos ansehen.
Guben gefiel mir gut! Und ich konnte es kaum erwarten, dass wir endlich in die Stadt zogen. Aber es dauerte doch noch bis September, bevor es soweit war. Ich bekam in der Schule in Wallwitz noch mein Zeugnis für das Sommerhalbjahr 1935.
- Mein letztes Schulzeugnis
- von der Volksschule in Wallwitz
Für die ersten drei Jahre wohnten wir in dem kleinen Häuschen, welches rechts von der Toreinfahrt stand. Durch einen Vorraum, in dem sich mein Vater eine kleine Schuhmacherwerkstatt eingerichtet hatte, kam man in den Wohn- und Schlafraum. Links stand der Ofen und zur Straße hin befanden sich zwei Fenster. Im hinteren Zimmer, einem schlauchartigen Raum, war die Küche untergebracht. Auch hier ging ein Fenster zur Strasse. Das andere ging zum Hof, mit dem Blick auf die dort befindliche Aschkute. Der Vorteil gegenüber Wallwitz war, dass wir das Wasser nicht mehr von der Pumpe holen mussten, sondern eine Wasser- leitung mit Ausguss hatten.
- Unsere erste Stadtwohnung (Aufnahme von 1995)
Im großen Haus wohnten noch neun Familien mit zehn Kindern in unterschiedlichem Alter. An Spielgefährten war also kein Mangel. Der große gepflasterte Hof wurde nach hinten zum Nachbargrundstück durch hölzerne Schuppen abgegrenzt. Das Imposanteste aber war das hohe schmiedeeiserne Tor zwischen zwei Mauerpfeilern und die schwere schmiedeeiserne Tür, die den Hof zur Strasse hin abschlossen.
Es war bestimmt keine Luxuswohnung, in die wir damals einzogen. Davon kann man sich noch heute überzeugen, denn dieses Häuschen steht in der Grünstrasse immer noch als traurige Ruine. Aber es war eine Stadt - Wohnung, und dieser Vorteil wog alles andere auf.
Und ich war jetzt Stadtkind geworden, eben ein G u b e n e r , wie man so schön sagt.
- Einwohnerbuch von 1936, Titelseite (Faksimile: Bewohner der Grünstraße 1)
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