CHRISTEL

Ich hatte Urlaub und verlebte ihn ganz allein im Bootshaus am Deulowitzer See.

Das Wetter war herrlich!
Langeweile hatte ich nicht, denn stets bevölkerten Badelustige, auch unter der Woche, den Strand am Ostufer. Im Seehof, einer Gaststätte der VdgB (BHG) mit Hotelbetrieb, in der ich zuweilen Mittag aß, war auch stets etwas los.
Ich aalte mich in der Sonne, schwamm im klaren Wasser des Sees oder machte mit meinem Faltboot Paddeltouren.
Abends und an den Wochenenden kamen immer ein paar Freunde und sorgten für Kurzweil.
Da ich keine Uhr besaß, war mir das Gefühl für Zeit völlig abhanden gekommen. Wie die Naturvölker richtete ich mich auch nach dem Stand der Sonne, und da sie während meines Urlaubs zum Glück ausgiebig schien, verlebte ich ein paar ungetrübte sonnige Tage.
Eines Morgens war die Sonne bereits ein ganzes Stück am azurblauen Himmelsgewölbe emporgestiegen, als sie mich mit einigen vorwitzigen Strahlen weckte. Nach meinem Gefühl war es schon recht spät und ich stand auf. Ich trat auf die Terrasse. Der See lag unberührt, in seiner Naturfassung aus dunkelgrünen Kiefern, vor mir. Ein Schwarm silberner kleiner Fische tummelte sich im flachen Wasser. Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher unzähliger Vögel. Eine friedliche Natur-Idylle bot sich meinen Augen und rührte mich an.
Ein solcher Tagesbeginn weitet das Herz und beflügelt die Seele: Das Leben ist doch schön!!!
Auf einmal hörte ich Stimmen. Zwei Waldarbeiter kamen auf ihrem Weg zur Arbeit am Bootshaus vorbei. Sie wunderten sich, dass ich schon aufgestanden war, denn nach ihrer Auskunft war es erst 5 Uhr in der Frühe.
So kann einem die Sonne narren, wenn man nicht gewöhnt ist, ihre Zeitangaben richtig zu deuten!! Nach meiner Empfindung hätte der Tag schon viel älter sein müssen. Ich hatte mich deshalb auch schon gewundert, warum es rund um den See noch so menschenleer war.
Einmal munter, nutzte ich den schönen Morgen, um eine Bootsfahrt zu unternehmen. Mitten auf dem See zog ich das Paddel ein und ließ das Boot treiben. Nackt lag ich im Boot, um mich von der Sonne wärmen und bräunen zu lassen. Kleine Wellen plätscherten leise gegen die Gummihaut des Bootskörpers. Dieses monotone Geräusch hatte eine einschläfernde Wirkung auf mich und ich duselte so vor mich hin. Deshalb war ich etwas erschrocken, als das Boot, von einer leichten Brise getrieben, am gegenüberliegenden Ufer mit einem kleinen Ruck im Schilf stecken blieb. Als ich es wieder flott machen wollte, stand plötzlich ein junges Mädchen vor mir. Sie hatte ein duftiges Sommerkleidchen an, das ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Aus ihrem freundlichen Gesicht schauten mich ein paar blaue Augen neugierig an. Sie hatte ihr Fahrrad in den Ufersand gelegt und stand mit ihren nackten Füßen im flachen Wasser des Sees. Jung war sie und kess. Ohne Scheu kam sie näher, wünschte einen schönen guten Morgen und fragte erwart-ungsvoll: „Brauchst du Hilfe!“

Christel
So kamen wir ins Gespräch.
Sie hieß Christel und war 16 Jahre alt. Sie erzählte mir, dass sie oft morgens, vor der Arbeit, eine Fahr-radtour macht. Der Deulowitzer See wäre dabei ihr bevorzugtes Ziel, und meistens würde sie auch eine Strecke schwimmen.
Ich lud sie ein, mit mir eine Bootspartie zu unternehmen. Sie willigte ein und wir paddelten gemeinsam ein Stück über den See. Ihre offene Art machte sie mir sympathisch und ich fand sie nett. Ich schien ihr aber auch nicht unsympathisch zu sein. Wir verabredeten, uns bis zum Ende meines Urlaubs jeden Morgen hier zu treffen.
Die Freundschaft, die sich zwischen uns entwickelte, basierte auf der Toleranz, die wir einander unserer gegensätzlichen Auffassung von der Welt entgegenbrachten: Sie meiner materialistisch-atheistischen, und ich ihrer idealistisch-christlichen.
Wir trafen uns auch nach meinem Urlaub regelmäßig. Wir unternahmen lange Spaziergänge. Gemeinsam bewunderten wir dabei am Abend die geheimnisvolle Schönheit des Sternenhimmels. Mein astronomisches Wissen ermöglichte es mir, Christel auf das eine oder andere Sternbild aufmerksam zu machen und ihr einige Gesetzmäßigkeiten des Kosmos zu erklären. Sie bewunderte mein Wissen, ließ sich aber in ihrem Glauben an Gott, als dem Schöpfer, nicht erschüttern.
Oft erzählte sie mir von ihren Erlebnissen, die sie bei Veranstaltungen der ,Jungen Gemeinde‘ hatte, schwärmte von dem Zusammenhalt untereinander, und dem, sie alle verbindenden, Glauben. Dabei spielten in ihren Erzählungen reelle Tatsachen, wie romantische Abende am Lagerfeuer mit gemeinsamem Gesang, Sympathien zu einzelnen Gruppenmitgliedern, oder ihre jugendliche Schwärmerei zu einem Jugendpfarrer keine unbedeutende Rolle. Auch in anderer Hinsicht war ihr Realitätsdenken spürbar. Als Arbeiterin in der Gubener Teppichfabrik war sie gewerkschaftlich organisiert und in dieser Hinsicht akzeptierte sie voll meine Absicht, mich auf einer FDGB-Schule politisch zu bilden.
Der Drei-Monate-Lehrgang begann Anfang Januar 1951 und ging bis Ende März. Die Schule war in einem ehemaligen Schloss in Bärenklau bei Guben untergebracht. Das Studium nahm mich voll in Anspruch und die Begegnungen mit Christel wurden für längere Zeit unterbrochen.
Es war an einem Sonntag Anfang März. So, wie alle anderen Lehrgangsteilnehmer nutzte auch ich den schönen Frühlingstag, um mir die Zeit im Schlosspark zu vertreiben. Als ich mich zur Mittagszeit wieder beim Schloss einfand, berichteten mir die Kollegen, dass für mich Besuch da gewesen wäre. Ein hübsches junges Mädchen aus Guben, Christel mit Namen, sei mit dem Fahrrad angekommen und hätte nach mir gefragt. Da ich nirgends zu finden gewesen wäre, sei sie, ein wenig enttäuscht, wieder weggefahren.
Ich ließ Mittag Mittag sein, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr Christel nach, in der Hoffnung, sie noch einzuholen und einen schönen Sonntag-nachmittag mit ihr zu verbringen.
Leider vergebens!!!
Ich strampelte bis nach Guben hinein, aber von Christel war keine Spur mehr zu entdecken. Wer weiß, wo sie noch hingefahren war.
Ich machte meinen Kollegen Vorwürfe, dass sie nicht gründlich nach mir gesucht hatten; ich machte mir Vorwürfe, weil ich nicht im Schloss geblieben war; und ich machte Christel Vorwürfe, weil sie so ungeduldig gewesen war und nicht noch etwas gewartete hatte. Doch alle Vorwürfe halfen nichts, der Sonntag war mir gründlich verpatzt und ich ärgerte mich darüber.
So sehr ich auch hoffte, Christel würde mich noch einmal besuchen kommen; es war vergebliches Hoffen. Sie ließ sich zu meinem Leidwesen bis zum Ende des Lehrgangs nicht mehr blicken.
Als der Lehrgang zuende war, fuhr ich mit meinem Fahrrad nach Guben, um von dort mit dem Zug nach Frankfurt/Oder zu fahren, wo ich schon seit über einem Jahr mit meiner Mutter wohnte. Vorher begab ich mich jedoch noch einmal zur Arbeitsstelle von Christel und wartete zum Feierabend vor dem Betriebstor auf sie. Ich hatte Glück und traf sie. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Da mein Zug erst spät abends fuhr, lud mich Christel zu sich nach Hause ein.
Ihre Mutter, eine kleine freundliche Frau, war überrascht, dass Christel einen Mann mitbrachte. Als sie mich begrüßte, schaute sie ehrfurchtsvoll an mir langen Kerl hinauf, und mit der naiv-anerkennenden Bemerkung: „Mein Gott, so ein schöner großer Mann!“, befürwortete sie die Wahl ihrer Tochter. Fürsorglich erkundigte sie sich bei mir, ob ich Hunger hätte. Ohne eine Antwort abzuwarten schlug sie ein paar Eier in die Pfanne. Als sie sie mir servierte, war aus ihrem Blick zu lesen, dass sie keinen Widerspruch dulden würde; denn so ein großer Mann m u ß d o c h Hunger haben.
Als ich mich am Abend von der Mutter verabschiedete, hatte ich den Eindruck, dass ich ihr als Schwiegersohn wohl sehr recht gewesen wäre.
Christel ließ es sich nicht nehmen, mich zum Bahnhof zu begleiten. Bis zur Abfahrt des Zuges war noch Zeit. Nachdem mein Fahrrad im Gepäckwagen untergebracht war, saßen wir Hand in Hand im dunklen Abteil und waren ein wenig traurig. Wir wussten beide, es war eine Trennung für immer, denn für mich begann als Lehrerassistent an der Gewerkschaftsschule in Bestensee ein völlig neuer Lebensabschnitt.
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