DAS NEUE FAHRRAD

Es war drei Jahre nach dem Krieg. In mir wuchs der Wunsch, endlich ein eigenes Fahrrad zu besitzen. Die Erfüllung dieses Wunsches war jedoch nicht so einfach. Ich wollte keinen alten Drahtesel, sondern ein neues, schönes Fahrrad. Doch ich wusste nicht, wo ich es herkriegen sollte und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das nötige Geld dafür zusammen bekommen würde.
Von einem Freund erfuhr ich, dass es in der Kupferhammer Straße eine Fahrradwerkstatt gibt, deren Besitzer alte Fahrräder aufarbeitet und auf Wunsch des Kunden und mit entsprechender Bezahlung die erforderlichen Teile aus Westberlin heranholt und anbaut. (Das war damals nicht unüblich und wegen der offenen Grenze nach Westberlin auch möglich; aber man durfte sich nicht erwischen lassen, sonst konnte es vorkommen, dass einem die Ware abgenommen wurde.)
Ich habe lange gezögert, bis ich mich endlich entschloss, zur Werkstatt zu gehen und mich über Möglichkeiten und Preise zu erkundigen.
„Wie soll denn dein Fahrrad aussehen“, fragte mich der Werkstattbesitzer, „willst du ein normales Fahrrad oder soll es etwas eleganteres sein?“
„Wenn es möglich wäre, hätte ich gern etwas eleganteres, vielleicht den Rahmen weinrot, die Schutzbleche silberfarben, die vordere Fahrradleuchte auf dem Schutzblech montiert, einen Vorbaulenker, den Dynamo am Hinterrad angebracht“, schilderte ich ihm meine Vorstellungen.
„Das lässt sich bestimmt machen, aber es wird etwas länger dauern!“, war seine Antwort.
„Und was wird es kosten? “, fragte ich mit bangem Zweifel.
Er wiegte überlegend seinen Kopf, betrachtete mich noch einmal taxierend und nannte dann den Preis: „Dreihundert Mark wirst du wohl für solch ein Fahrrad zahlen müssen! Aber du kannst dir das Ganze ja noch einmal durch den Kopf gehen lassen“, reagierte er sofort auf mein bestürztes Gesicht, „ich kann dir natürlich auch ein billigeres zusammen bauen, aber das hat dann natürlich nicht diese Schikanen“.
„Ich werde mir die Sache noch einmal genau überlegen und sage ihnen dann Bescheid“, verabschiedete ich mich von dem Handwerker und machte mich, doch etwas deprimiert, auf den Heimweg. Der Wunsch auf ein Fahrrad nach meinen Vorstellungen war, so sah es ganz aus, in weite Ferne gerückt. Wie sollte ich auch bei einem kargen Wochenverdienst, auch wenn ich noch so sparsam wäre, in Kürze die 300,00 DM aufbringen. Von meiner Mutter konnte ich keinen Zuschuss erwarten, denn sie hatte ja selbst nichts. Mein Vater hätte mir vielleicht etwas geborgt, denn Geld hatte er genug, aber da wir damals etwas in Spannung lebten, verbot es mir mein Stolz, ihn anzupumpen.
Also, nichts mit neuem Fahrrad! Ade, du schöner Traum!


Die Zeit verging, und ich hatte mich schon damit abgefunden, weiter, wie bisher, laufen zu müssen, da half mir wieder einmal ein glücklicher Zufall.
Kollege Jeschke aus der Gießerei, ein freundlicher, netter und hilfsbereiter älterer Herr sprach mich an: „Kollege Krause, ich habe gehört, du brauchst Geld, um dir ein neues Fahrrad zu kaufen. Ich kann dir das Geld borgen, wenn du willst. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich habe genug und ich helfe dir gerne. Zinsen brauchst du mir keine zu zahlen und über die Rückzahlung werden wir uns schon einig. Wenn du jeden Monat 20,00 DM abzahlst, bin ich zufrieden, und das wirst du doch schaffen.“

Ich, als strahlender
Besitzer eines neuen Fahrrades
Ein wenig Bammel hatte ich schon, mir soviel Geld von einem Arbeitskollegen zu borgen, aber die Aussicht, schnell zu meinem Wunschrad zu kommen, zerstreute alle Bedenken.
Kurz und Gut! Einen Monat später hatte ich mein neues Fahrrad und stand dafür mit 300,00 DM bei Kollegen Jeschke in der Kreide.
Indem ich konsequent ande-re Ausgaben einschränkte, war ich nach einem knappen Jahr meine Schulden los.
Das neue Fahrrad war noch schöner, als ich es mir vor-gestellt hatte. Es war ein erhebendes Gefühl, wenn ich damit stolz durch meine Hei-matstadt radelte.
Ein kleiner Makel wurde im nachhinein aber doch sichtbar: Das Gefährt hatte nur 26er Räder und ich musste, meinen langen Beinen Rechnung tragend, die Sattelstütze weit aus dem Rahmen ziehen.
Doch am Ende wurde dieser Makel mein unverwechselbares Markenzeichen.
Dank der freundlichen Hilfe meines Kollegen Jeschke konnte ich mir einen großen Wunsch erfüllen. Mein Fahrrad hat mir über 20 Jahre treue Dienste geleistet.
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