BOOTSABENTEUER AUF DEM SCHWARZEN FLIESS
Als Kind hatte ich oft davon geträumt, mit einem Kahn, der über ein Tretlager per Muskelkraft angetrieben wurde, auf dem Schwarzen Fließ zu schwimmen. Ich stellte mir vor, er wäre wie ein Ausflugsschiff mit vielen Passagieren besetzt, und es würde auch Kaffee und Kuchen serviert werden. Ich sah mich als Kapitän, der gekonnt sein Schiff steuert und den alle Mitfahrenden wegen seines Könnens ehrfurchtsvoll bewunderten.
Ein Boot zu besitzen, war also schon lange mein Wunschtraum gewesen.
Bereits 1943/44 versuchte ich als Modelltischlerlehrling, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Ich begann, mir ein Indianerkanu zu bauen. Den Spantenriss hatte ich selbst entworfen und im Maßstab 1:1 auf Pappe aufgezeichnet. Danach hatte ich die Spanten, den Vorder- und Hintersteven und auch den Kiel aus Erlenholz angefertigt und in unserem Schuppen aufbewahrt. Fertig ist das Kanu aber nie geworden! Die Zeit reichte einfach nicht, denn ich musste die Teile ja heimlich anfertigen und unentdeckt aus dem Betrieb schmuggeln, und das dauerte seine Zeit. Als ich die Teile fast zusammen hatte, rollte die sowjetische Front im Angriff auf Berlin über Guben hinweg und die Kanuteile verbrannten im Schuppen.
Ob das Boot jemals im Wasser geschwommen wäre, ist auch noch sehr fraglich, denn, die Konstruktion von damals heute kritisch unter die Lupe genommen, wäre das Kanu zu kurz und zu hoch, die Spanten und der Kiel viel zu klobig und zu schwer gewesen. Bestimmt schon beim Stapellauf hätte sich das Kanu in ein U-Boot verwandelt und wäre gleich abgesoffen.
Ein und ein halbes Jahr nach dem Krieg sollte mein Wunschtraum nun endlich in Erfüllung gehen. Von Günter Brummack, einem guten Bekannten meines Freundes Manfred, hatte ich ein Zweisitzer-Faltboot ,Pouch‘ für drei Flaschen Schnaps erworben. Das war für uns beide ein gutes Geschäft, denn mir, der ich jeden Monat eine Flasche Bergmannsschnaps für 5,00 Mark erhielt, kostete das Boot ganze 15,00 Mark; Günter Brummack aber, der als Berlin-Zeitungsfahrer den Schnaps dort auf dem Schwarzmarkt verkaufte, hatte eine Einnahme von mindestens 450,00 Mark.
Es war kein neues, sondern ein gebrauchtes Boot und war bestimmt nicht rechtmäßig in den Besitz des Verkäufers gekommen. Es gab für das Faltboot auch keine Doppelpaddel, sondern nur zwei abgeschnittene Riemen von einem Ruderboot, die man als Stechpaddel benutzen konnte.
Ich wendete viel Zeit auf, um das Boot zu überholen. Den Rumpf strich ich mit Nitro-Modelllack rot an und das Deck wurde mit Silberbronze aufgefrischt. Das Boot erhielt den Namen ,Lumpi‘. Der hintere Platz war ein alter Autositz, den ich kurz nach Kriegsende aus einem Autowrack ausgebaut hatte, das in der Mittelstraße gleich hinter der Gärtnerei Flöter stand. Zum Segeln hatte ich mir, als Modelltischler eine Kleinigkeit, einen Mast angefertigt, und die alte Zeltbahn, die ich aus der Gefangenschaft mit nach Hause gebracht hatte, diente als Segel. Auch einen Bootswagen hatte ich mir bauen müssen, um das Boot transportieren zu können. Ein älterer Lehrling aus der Modelltischlerei half mir, Mast und Wagen aus dem Betrieb zu schmuggeln, denn sie waren ja auch heimlich gebaut worden und konnten nicht am Pförtner vorbei mitgenommen werden.
Da ich das Boot nicht ständig auseinandernehmen und wieder zusammenbauen wollte, hatte ich mich entschieden, es an der Decke des langen Flurs aufzuhängen, der vom Treppenhaus zu unserer Wohnung führte. Da die Hängevorrichtung zu schwach und das Boot zu schwer war, ließ sich das Vorhaben aber nicht verwirklichen. Deshalb musste das Boot schnellstens nach Atterwasch gebracht werden, um es, wie von Anfang an vorgesehen, in der Scheune meines Großvaters unterzustellen. Das war auch das Vernünftigste, denn ich wollte ja mit dem Boot an den Wochenenden und im Urlaub auf dem Deulowitzer See paddeln, der etwa einen und einen halben Kilometer von Atterwasch entfernt in den Kaltenborner Bergen lag.
Mit meinem Freund Manfred beriet ich, wie wir den Transport am besten bewerkstelligen könnten. Das Boot auf einem Lastwagen nach Atterwasch zu bringen, wäre sicher die beste Lösung gewesen. Sie war aber zu teuer und deshalb für mich nicht durchführbar. Auch den Gedanken, das Boot auf dem Bootswagen nach Atterwasch zu schieben, mussten wir verwerfen, weil es wegen der Entfernung von 7 Kilometern viel zu anstrengend gewesen wäre.
„Weißt du was“, machte ich Manfred mit meiner Idee vertraut, „wir schieben das Faltboot auf dem Bootswagen die Grünstraße hoch bis zum Schwarzen Fließ, bringen es dort zu Wasser und paddeln auf dem Fließ bis nach Atterwasch. Wir können das Boot dabei gleich auf seine Funktionstüchtigkeit überprüfen. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, dass wir bei einigen Brücken das Boot herumtragen müssen, aber das ist für uns beide sicher kein Problem.“
Es war ein sonniger Sonnabendnachmittag, als wir uns ans Werk machten. Das Boot wurde auf dem Bootswagen befestigt und los ging es! Die kurze Strecke bis zum Fließ hatten wir schnell bewältigt. Es war uns recht feierlich zumute, als wir das Boot zum erstenmal ins Wasser ließen, den Bootswagen verstauten, und, Manfred vorn und ich hinten, mit je einem Paddel das Boot durch das nasse Element bewegten. Wir fühlten uns wie Abenteurer in der Wildnis, die ihre erste Feuerprobe zu bestehen hatten.
Anfangs hatten wir Vergnügen an unserem Abenteuer. Zu unserem Glück war auch die erste Brücke hoch genug, um sie im Boot sitzend zu passieren. Doch danach begann die Plackerei.
Mindestens 12 Brücken überspannten das Schwarze Fließ von der Sprucke bis nach Deulowitz; und zwar so niedrig, dass wir bei jeder das Boot herumtragen mussten. Wer die Gegend kennt, weiß, dass das Fließ nach Norden hin von Erlen besäumt wird, zu den Wiesen nach Süden hin aber offen ist, so dass die Sonne voll hineinscheinen kann und man nirgendwo Schatten findet. Zu Beginn waren uns die wärmenden Sonnenstrahlen noch angenehm, doch nach und nach wurden sie lästig und bald unerträglich. Die ungewohnten Anstrengungen beim Paddeln, die Mühen beim Umtragen der Brücken und die unbarmherzig brennende Sonne zehrten zunehmend an unseren Kräften und ließen unsere Stimmung immer mehr sinken. Dazu kam noch, dass ich, je länger wir unterwegs waren, immer stärker von einem Migräneanfall geplagt wurde. Schließlich war mir alles egal und ich ließ Manfred sich allein abplagen. Mit stechendem Kopfschmerz und Übelkeit lag ich im Boot. Zwar hatten wir Deulowitz erreicht und damit die vielen hemmenden Brücken hinter uns gebracht, doch vor uns lagen immer noch mindestens zwei Kilometer durch die Wiesen.
Da Manfred allein mit nur einem Stechpaddel Schwierigkeiten hatte, das Boot vorwärts zu bewegen, stieg er kurzentschlossen aus, nahm die Vorderleine über die Schulter und zog es die letzte Strecke, barfuss im Fließ watend.
Wenn mir nicht so übel gewesen wäre und ich meinem Freund gegenüber kein so schlechtes Gewissen gehabt hätte, wäre das Ganze für mich ein romantisches Erlebnis gewesen, so auf dem Boden des Bootes liegend, in der anbrechenden Dunkelheit bei Mondschein durch die, sich langsam mit Nebel füllenden Wiesen zu gleiten und in der Stille der heraufziehenden Nacht nur das leise Plätschern der Wellen am Bug zu hören, sowie das Platschen der Füße meines Freundes, der, einem Schemen gleich, vor dem Boot im Wasser watete.
Es war schon 22.00 Uhr, als wir endlich die Straßenbrücke von Schenkendöbern nach Atterwasch erreichten. Wir hätten zwar die restlichen 500 Meter bis zum Dorf noch auf dem Fließ zurücklegen können, doch Manfred hatte die Nase voll. Da ich mich durch die Ruhe etwas erholt hatte und der stechende Schmerz in den Schläfen nachließ, machten wir uns beide daran, das Boot die Böschung hoch zu bugsieren, es auf den Bootswagen zu schnallen und die letzte Strecke zu schieben.
Endlich, endlich, konnten wir das Faltboot in der Scheune meines Großvaters abstellen.
Auf dem Nachhausewege, den wir nun zu Fuß zurücklegten, hatten wir die Anstrengungen des Nachmittags und Abends bald vergessen. Wir machten beide schon wieder Witze und freuten uns auf den Sonntag, der ja schon begonnen hatte, denn es war inzwischen Mitternacht längst vorbei. Da wollten wir unser Boot voller Besitzerstolz über den Deulowitzer See paddeln und uns von den überstandenen Anstrengungen ausgiebig erholen.
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