BLAUBEERZEIT

Westlich von Guben, beinahe bis an Mückenberg heranreichend, lag die Gubener Stadt-Forst. Im Norden verband sie sich mit der Mönchs-Heide zwischen Kuschern und Seitwann. Im Osten stieß sie an den Forst Braschen und im Süden grenzte sie an die Groß-Bösitzer, die Sauder und die Kraniger Bauernheide.

Das ideelle Zentrum dieses ausgedehnten Waldgebietes, welches reich an Pilzen und Waldbeeren war, bildete der Heidekrug, eine Oberförsterei mit Wirtshaus, die mitten in der Heide an der Straße von Guben nach Crossen lag.
In den Monaten Juli/August, der Zeit, in der die Blaubeeren reiften, und die wuchsen hier in Hülle und Fülle, wanderten jedes Jahr Tausende von Blaubeersammlern aus Guben und Umgebung auf dieser Straße in den Wald, um die begehrten Beeren zu pflücken.
Die Atmosphäre dieser Zeit schildert die ehemalige Gubnerin Dolores Rehberg († 2002) sehr einfühlsam in ihrem Mundart-Gedicht: ‚In de Gubna Heede‘, das ich deshalb hier mit ihrer freundlichen Genehmigung in Auszügen wiedergeben möchte. (Wer es ganz lesen möchte, findet es im ‚Gubener Heimatbrief‘ 1/95, Seite 95 bis 96.)


„Wa moachten frieh uns off de Beene
wa fiehlten uns ooch nich alleene:
Off de Chaussee woar Jung und Alt,
und alles loatschte: Richtung Wald.

Een Soack hoatt’ jeda off sein Ricken
mit Bixen, die a braucht zum Plicken.
’Ne Puttaschniete woar ooch drin,
und woas zu schlabbern musste sin.

Der Weg noahm iebahaupt keen Ende-
Am „Heedekrug“ fing an’s Gelände,
wo stoand des erschte Blaubeerkraut.
Da ham wa uns glei umgeschaut,
de besten Stellen zu awischen,
denn oand’ree woar’n ooch da inzwischen.


Nu schnell’n Rucksoack aus de Hand,
des Teppchen ran an’n Bauch mits Band.
So koannte man mit beede Hände
de Blaubeer’n grabschen ohne Ende.

Wie’n Meer so blau, so weet man kuckt.
De Micken hoam ooch hier jejuckt.-
De Beeme schmissen loange Schoatten,
de Bixen wa jefillt, genug mir hoatten.

Da kunnste Heedeloofa seh’n
wie Karawanen, heeme jehn.
Een jeda hoatt’ne blaue Gusche
und blaue Hände wie von Tusche,
denn in de Heede woar keen Hoahn,
an den sich eena woaschen koann.

Wie ich an’n Tische denn jesessen
und ooch een bißchen hoatt jejessen,
soah ich de Blaubeer’n jedesmoal,
wohin ich kuckte, iebaall.

Ooch wie im Bette ich jelegen,
da soah ich se noch allawejen.-
Und heute is masch wieda kloar,
wie scheen de Gubna Heede woar.“



Natürlich war Blaubeeren lesen nur mit Blaubeerschein erlaubt. Man bekam ihn für die ganze Saison gegen 3 Reichsmark Gebühr vom Förster. Wer ohne Schein erwischt wurde, war seine Beeren los und musste obendrein 10 Mark Strafe zahlen.
Viele Arbeitslose nutzten diese Zeit, um sich zusätzlich etwas zu verdienen.
In den Dörfern rund um das Waldgebiet hatten pfiffige Händler Aufkaufstellen eingerichtet. Sie bezahlten je nach Angebot und Nachfrage zwischen 40 und 50 Pfennige pro Pfund. An manchen Tagen wurden mehrere Tonnen Blaubeeren aufgekauft. Die Händler fuhren dann mit den frischen Blaubeeren nach Berlin, wo sie meistens gute Gewinne machten.
Ein Wassereimer voll waren etwa 10 Pfund Beeren. Ihn voll zu pflücken, war für geübte Sammler kein Problem. Unter günstigen Umständen hatten sich so die 3 Mark Gebühren schon an einem Tag bezahlt gemacht. Was darüber hinaus
gesammelt wurde, besserte die karge Arbeitslosenunterstützung etwas auf, was in den damaligen Krisenzeiten nicht zu verachten war.
Auch meine Eltern nutzten die Gelegenheit, um die Familienkasse durch Blaubeeren sammeln zusätzlich etwas zu füllen. Und auch Onkel und Tanten fanden sich ein, um mitzuhelfen, den blauen Reichtum des Waldes auszubeuten.
Gleich hinter dem Haus unserer Wirtsleute führte ein Feldweg in den Gubener Forst

Dass wir damals in Wallwitz wohnten, war günstig, denn der Blaubeerwald begann gleich hinter dem Dorf. Dadurch hatten wir keine weiten Anmarschwege und konnten die Zeit für uns vorteilhaft zum Beeren sammeln nutzen.
Es war an einem Spätjulitag im Jahre 1932. Ich war damals gerade vier Jahre alt. Meine Mama und ihre Schwester Trude, die mit ihrer Tochter Irma aus Sommerfeld zu Besuch war, wollten an diesem Tage recht früh in den Wald zum Blaubeeren sammeln gehen. Um 5.00 Uhr waren wir aufgestanden. Meine Mama machte für uns das Frühstück und die Verpflegung zum mitnehmen fertig. Tante Trude packte die Büchsen und Töpfe zum sammeln, die Verpflegung, etwas zum trinken und eine Decke in die Rucksäcke.
Meine Kusine Irma, sie ist drei Jahre älter als ich, zog sich schon von alleine an. Ich war dazu noch zu klein. Nur mit einem kurzen Hemdchen bekleidet, wartete ich darauf, dass mich meine Mama anzog. Da sie noch zu tun hatte, stellte sie mich auf den Küchenstuhl und gab meiner Kusine meine Sachen mit der Aufforderung, mich schon immer anzuziehen. Das war mir gar nicht recht. Bockig stieß ich sie mit dem Fuß weg und plärrte: „Du sollst mich nicht anziehen! Ich will von meiner Mama angezogen werden!“
Meine Mama, die noch am Küchenschrank hantierte, versuchte im Guten, meine Widerborstigkeit zu überwinden und sagte versöhnlich: „Irmchen kann doch schon immer anfangen, dich anzuziehen, wenn ich meine Arbeit erledigt habe, ziehe ich dich dann fertig an.“
Mit kindlichem Starrsinn beharrte ich aber auf meinem Standpunkt: „Ich will nicht von Irmchen angezogen werden!!“, und um meinen Protest zu unterstreichen, pinkelte ich im hohen Bogen vom Stuhl herunter in die Küche.
Meine Kusine ließ meine Sachen fallen und sprang zur Seite, um nicht von dem Urinstrahl getroffen zu werden.
Tante Trude war ob meines Tun’s voller Entrüstung: „Pfui Teufel, was machst du Schweineigel denn da??!!“
Doch auf die Reaktion meiner Mama war ich am wenigsten gefasst. Ihre Hand sauste mehrmals kräftig auf meinen nackten Po, so dass sich ihre Handfläche auf dem weißen Fleisch rot abzuzeichnen begann. Wütend verkündete sie mir: „Wenn du dich nicht sofort von Irmchen anziehen lässt, gehen wir ohne dich in den Wald, du kommst wieder ins Bett und musst alleine zu Hause bleiben!“
Die schmerzhaften Schläge und die sehr ernst gemeinte Drohung brachen meinen Widerstand und ich ließ mich, ohne weiter zu mucken, von meiner Kusine anziehen. Aber ein klein wenig steif machte ich mich doch dabei, um es ihr wenigstens etwas schwerer zu machen.
Im Wald war der unangenehme Zwischenfall schnell vergessen. Als ein Platz gefunden war, wo sich das Sammeln lohnte, breitete meine Mama die Decke aus, legte die Sachen an den Rand und setzte mich drauf.
„Du bleibst hier auf der Decke sitzen, passt auf unsere Sachen auf und spielst schön“, gebot sie mir, und um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, setzte sie noch hinzu, „und dass du ja nicht alleine weggehst, sonst verirrst du dich im Wald und die böse Hexe fängt dich weg.“
Dann begannen die drei emsig Blaubeeren in ihre Becher zu sammeln.
Wer seinen Becher voll gesammelt hatte, kam zurück zum Lagerplatz und leerte ihn im Eimer aus. Dadurch war ich immer unter Kontrolle und fühlte mich auch nicht so allein. Wenn meine Mama kam, gab sie mir jedes mal einen Zweig Blaubeerkraut, an dem besonders viele große reife Blaubeeren hingen.
„Hier, Werner, hast du was zum Naschen.“ So konnte ich auch Blaubeeren abpflücken, aber nur, um sie mir in den eigenen Mund zu strecken.
Ich machte es mir auf der Decke bequem. Als mir das Herumsitzen langweilig wurde, sammelte ich alle erreichbaren Kienäppel* und spielte mit ihnen Soldaten. Ich legte sie in drei Reihen hin, platzierte einen Anführer davor und ließ sie in meiner Vorstellung lange Märsche machen.
Nach und nach wurde mir das Spiel mit den leblosen Kienäppeln langweilig. Ich schaute mich nach etwas Interessanterem um. Mein Blick wurde von einem blauen krabbelnden Etwas magisch angezogen, das sich da am Deckenrand bewegte. Ein Mistkäfer torkelte vorbei.
‚Oh‘, dachte ich, ‚den kann man ja richtig marschieren lassen‘, und schon begann ich, alle erreichbaren Mistkäfer in die große Latztasche meiner Spielschürze einzusammeln.
Doch Mistkäfer lassen sich nicht unter ein Kommando stellen. Sie machen was sie wollen. Da ihnen der Aufenthalt in meiner Schürzentasche nicht behagte, gingen sie auf Wanderschaft. Ich sah aus wie ein überdimensionaler Blaubeerstrauch, nur, dass meine Blaubeeren metallisch blau glänzten und Beine hatten. Meine Mama schüttelte sich vor Ekel, als sie mir die Krabbeltiere vom Körper sammelte. Ich aber konnte nicht verstehen, was an diesen putzigen Käfern so ekelig sein sollte. Kinder gehen eben unvoreingenommener an jedes Lebewesen heran, und möge es nach Meinung der Erwachsenen noch so unappetitlich sein. Ich kann mich erinnern, dass ich ein andermal eine ganze Schürzentasche voll kleiner Frösche eingesammelt habe, dass es nur so gewimmelt hat.
Als ein Eimer mit Blaubeeren gefüllt war, gab es endlich Frühstück. Das war für mich immer das Schönste eines solchen Waldaufenthaltes. Niemand schalt mich beim Essen, dass ich krümelte, und eigenartig, der kalte Malzkaffee aus der flachen Emailleflasche schmeckte mir im Wald besser, als süßer Kakao zu Hause.
Nach dem Frühstück brauchte meine Kusine nicht mehr mit zum Blaubeeren sammeln. Sie war ja mit ihren sieben Jahren auch noch ein Kind und hatte bisher ohne zu murren fleißig ein um das andere Mal ihren Becher mit den leckeren Waldfrüchten gefüllt. Jetzt konnten wir gemeinsam auf der Decke spielen. Da meine Kusine schon in die Schule ging, spielte sie am liebsten mit mir Schule, wobei sie immer die Lehrerin war. So verging die Zeit für uns wie im Flug. Ich war sogar ein wenig traurig, dass Mama und Tante Trude gegen Mittag zwei Wassereimer mit Blaubeeren voll hatten, und wir uns auf den Weg nach Hause begaben.
Es hatte sich gelohnt!!!
21 Pfund kamen bei der Sammelstelle auf die Waage. Dafür gab es 10,50 Mark. Freudig teilten sich Mama und Tante Trude 10,00 Mark. 50 Pfennige bekam meine Kusine für ihre Sparbüchse, als kleine materielle Anerkennung für ihre fleißige Hilfe.
Am Wochenende darauf, Tante Trude und Irmchen waren mit einer großen Büchse Blaubeeren, die sie noch für sich gesammelt hatten, wieder nach Sommerfeld gefahren , wollten meine Eltern ein letztes Mal die zu Ende gehende Blaubeersaison nutzen. Am Sonnabend nach dem Abendbrot nahm mich meine Mama auf den Schoß. „Wernerchen“, sagte sie zärtlich, „Papa und Mama wollen morgen ganz früh noch einmal in die Blaubeeren. Wir möchten sehr viele Blaubeeren pflücken und schnell wieder heim kommen. Deshalb können wir dich diesmal nicht mitnehmen. Bleibst du mal lieb alleine zu Hause? Ich mache dir auch ein schönes Frühstück zurecht und stelle es dir an dein Bettchen.“
„Ihr könnt ruhig morgen früh in den Wald gehen. Ich bleibe auch alleine hier. Ich habe gar keine Angst!“, verkündete ich mutig.
„Das ist lieb von dir. Du bist doch ein richtiger mutiger kleiner Junge“, lobte Mama meine Zusage. Dann brachte sie mich in mein Bettchen und gab mir einen lieben Gutenachtkuss. Ich fühlte mich als Held und schlief zufrieden ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, wurde mir erst nach und nach bewusst, dass ich ganz alleine in der Wohnung war. Noch etwas verschlafen, merkte ich, dass mein Bettchen anders war, als sonst. Das Seitenteil war heruntergeklappt. Ungewöhnlich war auch, dass vor dem Bett der Küchenhocker mit dem Frühstück stand, und, sicher als Mutmacher gedacht, ein großes Stück Schokolade daneben lag. Ein Blick zu den Betten meiner Eltern zeigte mir: Sie waren leer. Langsam begann nun doch die Angst in mir hoch zu steigen, denn es war das erste Mal, dass ich ganz alleine in unserer Wohnung war.
Schnell sprang ich aus dem Bett und schaute in die Küche: Sie war auch leer. Ich klinkte an der Tür nach außen. Sie war verschlossen. Aller Mut, den ich gestern Abend noch so überzeugend vor meiner Mama demonstriert hatte, verließ mich. Ich stürzte ans Fenster, von dem man den Wald sehen konnte, riss es in panischer Angst auf und schrie, als ob ich am Spieße steckte, aus Leibeskräften nach Mama und Papa.
Unsere Wirtsleute, die mein Geschrei vernommen hatten, versuchten von unten beruhigend auf mich einzureden. Doch ich war in meiner Angst nicht zu beruhigen.
Zum Glück kamen meine Eltern gerade mit vollen Eimern aus dem Wald zurück.
Mama hatte schon von weitem mein Geschrei gehört. Als sie mich aus dem Fenster hängen sah, wurde sie blass vor Schreck und sie beeilte sich, nach oben zu kommen. Als sie mich dann in die Arme nahm, mir mit ihren blaufingerigen Händen beruhigend über den Kopf strich und mich liebevoll ‚kleines Dummerchen‘ nannte, versiegten nach und nach die Tränen der Angst. In das letzte Schluchzen hinein rechtfertigte ich mein Verhalten: „Weißt du, Mama, dass ich allein zu Hause war, das war gar nicht schlimm. Aber ich hatte große Angst, ihr kommt nicht mehr wieder“.
Mit einem riesigen Blaubeerstrauß voller süß-herber Früchte ließ ich mich versöhnen.
Seitdem aber nahm man mich immer zum Blaubeeren pflücken mit!
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