INGE
Man muss es neidlos anerkennen, Inge war ein hübsches Mädchen.
Sie hatte ein niedliches Gesicht, das von einer dunkelblonden, naturgewellten Lockenpracht umrahmt wurde. Mit ihren graugrünen Augen schaute sie manchmal etwas verträumt drein. Da ihre Mutter ihr sehr geschmackvolle Kleidung selbst nähte, war sie für die damalige Zeit beinahe exquisit angezogen. Dadurch wurde ihre gute Figur wirkungsvoll betont.
Es ist deshalb nur zu verständlich, dass sie die bewundernden Blicke der jungen Männer auf sich zog, wenn sie auf dem Tanzsaal erschien, und dass viele Mädchen missgünstig über sie redeten.
Sie wusste, das sie schön war, und sie tat alles, um sich auch wirkungsvoll in Szene zu setzen.
- Inge 1947
Einmal saß sie im Feldschlösschen beim Tanz anfangs ganz allein an einem Tisch. Da wir uns gut kannten, lud ich sie ein: „Inge, du brauchst doch nicht allein zu sitzen, komm und setz dich doch zu uns.“
„Das ist gut gemeint, Werner, aber ich warte noch auf ein paar Freundinnen und halte für uns den Tisch frei“, lehnte Inge mein Ange-bot ab.
Ich konnte anschließ-end beobachten, dass Inge die freien Plätze fremden Mädchen anbot, die keinen Platz mehr gefunden hatten. Dabei achtete sie aber sehr darauf, dass diese Mädchen weniger hübsch waren als sie, so dass sie selbst wirkungsvoller Blickpunkt blieb.
Inge wohnte in der Altsprucke Sie hatte noch zwei ältere Schwestern, Helga und Trautchen, die bereits verheiratet waren. Deshalb lebte sie mit ihrer Mutter, einer lieben Frau, die ihr Nesthäkchen maßlos verwöhnte, allein zusammen. Ihr Vater war aus dem Krieg nicht wiedergekommen.
Inge war ein Einzelgänger und recht egozentrisch veranlagt. Da wir uns schon länger kannten, schloss sie sich manchmal an, wenn unsere Truppe etwas unternahm. Wenn ihr dabei etwas gegen den Strich ging, war sie gleich eingeschnappt und reagierte zickig. Man könnte sagen, sie war ein launisches Frauenzimmer. Deshalb kam es zwischen ihr und uns auch zu keiner engeren Bindung.
Inge tanzte sehr gut und gerne. War es schon eine Augenweide, sie tanzen zu sehen, so war es für mich ein Genuss, mit ihr über das Parkett zu schweben. Deshalb war sie auch eine meiner auserkorenen Tanzpartnerinnen. Da ich mich zu einem guten Tänzer entwickelt hatte, tanzte sie auch gerne mit mir.
Mich verband mit Inge ein vertraut - freundschaftliches Verhältnis. Trotz ihrer Launenhaftigkeit gefiel sie mir und ich wäre für sie gern mehr gewesen, als nur ihr kumpelhafter Freund. Doch in dieser Hinsicht hielt sie kühle Distanz und jeder Versuch von mir, ihr näher zu kommen, scheiterte.
Als ich mich einmal mit ihr bei ihrer Schwester Helga verabredet hatte, versetzte sie mich schmählich. Da wurde mir schmerzlich klar, bei Inge werde ich wohl keinen Blumentopf gewinnen können. Deshalb hielt ich mich künftig in dieser Hinsicht zurück und beschränkte mich auf unsere gemeinsamen Tänze. Das fiel mir um so leichter, nachdem ich Eva, meine Jugendliebe, kennen gelernt hatte.
Wie es für egozentrische Frauen typisch ist, ließ Inge sich von Männern gerne hofieren. Sie wusste, wenn sie wollte, könnte sie jeden haben. Und das nutzte sie ohne Skrupel aus. Berechnend spielte sie mit den Männern. Man spürte, dass es ihr nicht um eine feste Beziehung ging, sondern nur darum, ihre Wirkung zu testen. Dabei machte es ihr auch nichts aus, Männer zu umgarnen, die eine feste Freundin hatten. Ursel, eine alte Bekannte, musste das schmerzlich spüren. Inge hatte sich, einfach so aus Spaß, in Ursels Beziehung gedrängelt und ihr den Freund ausgespannt. Als sie erreicht hatte, was sie wollte, gab sie ihm zwar wieder den Laufpass, aber die Beziehung zu Ursel ließ sich nicht wieder einrenken. Diese Gemeinheit hat sie Inge bis heute nicht verziehen.
Wir waren alle recht erstaunt, als Inge eines Tages mit einem nichtssagenden, faden blonden Macker ins Feldschlösschen kam. Es schien aber etwas beständiges zu sein, und sie tat so, als ob sie mit ihm das große Los gezogen hätte. Eines Tages war Inge mit ihrem neuen Freund verschwunden. Sie war mit ihm nach dem Westen abgehauen.
Was aus ihr geworden ist, ist mir nicht bekannt, denn ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört.
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