TANZEN – MEINE LEIDENSCHAFT

Nach dem Krieg herrschte großer Nachholbedarf auf allen Gebieten. So auch bei Vergnügungen und besonders stark bei Tanzvergnügen.
Es war deshalb nicht verwunderlich, dass Anfang Dezember 1945, als die ersten öffentlichen Tanzveranstaltungen stattfanden, die Säle gerammelt voll waren. Sei es im Feldschlösschen, in der Sprucke oder im Kupferhammer, überall drängte sich das vergnügungssüchtige Volk auf den Tanzböden und holte nach, was es in den Kriegsjahren entbehren musste. Auch mein Vater und ich hatten uns fein gemacht und vertrieben uns die Zeit im Feldschlösschen. Das Publikum war damals sehr gemischt. Bei den Frauen, die anfangs noch in der Überzahl waren, bewegte sich das Spektrum von ganz jung bis ganz schön alt. Bei den Männern überwogen zuerst die jüngeren Jahrgänge. Wer tanzen konnte, bevölkerte das Parkett, die anderen flanierten umher, und versuchten sich auf andere Weise zu unterhalten.
Auch ich drängelte mich durch das schwitzende Volk der Tanz- und Unterhaltungslustigen.
Plötzlich stutzte ich! Das junge hübsche Mädchen mit dem langen, dunkelblonden, welligen Haar, das sich recht anmutig mit seiner Freundin auf der Tanzfläche bewegte, kam mir bekannt vor. Auf einmal erinnerte ich mich: ,Das ist doch die nette Kleine, die ich noch Ende 1944 beim Konzert im Bergschlösschen kennen gelernt hatte‘.
In der Tanzpause drängelte ich mich durch die Massen, um in ihre Nähe zu kommen. „Hallo Inge“, machte ich mich bemerkbar, „kannst du dich noch an mich erinnern?“
Auch sie war erfreut, mich wieder zu sehen. „Werner, du auch hier! Das ist ja eine Überraschung! Wie geht es dir? Hast du den Krieg gut überstanden? Habt ihr noch eure Wohnung?“, fragte sie interessiert. Als die Musik wieder zu einem neuen Tanz aufspielte, zog sie mich auf die Tanzfläche und forderte mich auf: „Komm, lass uns tanzen!“
„Inge, ich bin heute das erste Mal im Feldschlösschen. Ich kann leider noch nicht tanzen“, gestand ich ihr mit Bedauern.
„Das musst du unbedingt lernen“, riet sie mir noch, bevor sie sich wieder mit ihrer Freundin unter die Tanzpaare mischte, und mich etwas verlegen am Rande stehen ließ.
Jeder wird verstehen, dass ich damals untröstlich war, noch nicht tanzen zu können. Auf dem Heimweg bekniete ich deshalb meinen Vater, der ja gekonnt eine Sohle aufs Parkett legte, mir das Tanzen beizubringen. Er tat sein Bestes! Leider mangelte es ihm am nötigen pädagogischen Geschick, so dass ich am Ende lediglich den ,Schieber‘, einen antiquierten Marschtanz, einigermaßen intus hatte. Aber damit war bei den Mädchen kaum ein Blumentopf zu gewinnen. Deshalb suchte ich nach anderen Wegen, mein tänzerisches Können zu entwickeln.
Mein Freund Wolfgang, der damals bereits in die Tanzstunde ging, war mir dabei ein großer Helfer. Alles, was er an neuen Tänzen lernte, vermittelte er meinem Freund Manfred und mir noch am selben Abend. Meistens trafen wir uns an der Litfasssäule Berliner- Ecke Grünstraße. Dort führte uns Wolfgang die Schritte vor und wir übten sie dann. Dabei tanzten wir, ein entsprechendes Lied trällernd, zum Gaudi der Vorbeikommenden, immer um die Litfasssäule herum. So lernten wir neben dem Foxtrott, der damals als „Zitterfox“ getanzt wurde, auf diese Weise auch Polka, Rheinländer, Tango, English Walz und andere für uns recht ausgefallene Tänze.
Mit diesen Kenntnissen ausgerüstet, ging es dann in den nächsten Tagen ins Feldschlösschen oder in die Sprucke zum Tanz.

Das Feldschlösschen nach 1945
Am Anfang war es für mich nicht leicht, zu unterscheiden, was für einen Tanz die Kapelle gerade spielte.
Ich saß also auf der Lauer, und wenn die Kapelle anfing, zu spielen, fragte ich jedes Mal meinen Freund ganz aufgeregt: „Was ist das für ein Tanz, den die Kapelle jetzt spielt, kann ich den schon?“
Wenn ich dann erfuhr: „Das ist ein Langsamer Walzer! Den kannst du noch nicht!“, blieb ich sitzen und schaute neidisch auf die, die sich mit einem Mädchen auf der Tanzfläche vergnügten. Ich fieberte dann schon auf den nächsten Tanz. Kam schließlich von meinem Freund die erlösende Mitteilung: „Werner, das ist ein Foxtrott, den kannst du schon!“, dann sauste ich los, um ein Mädchen aufzufordern und mehr oder weniger gekonnt eine Sohle aufs Parkett zu legen.
Je besser es mit dem Tanzen ging, um so anspruchsvoller wurde ich. Nach und nach fand ich heraus, mit welchem Mädchen ich welchen Tanz am besten tanzen konnte. Deshalb holte ich mir auch nicht mehr wahllos irgend ein Mädchen zum Tanz, sondern ging ganz gezielt vor, die eine zum Foxtrott, die andere zum Tango und eine dritte zum Langsamen Walzer. Wenn einmal ein anderer schneller war als ich, dann setzte ich mich lieber wieder hin und wartete, anstatt mit irgend einer zu tanzen, die nicht im geringsten meinen Erwartungen entsprach. Es gab aber auch umgekehrte Fälle. So konnte es schon mal vorkommen, dass die von mir auserwählte, wenn sie sah, dass ich zu ihr kommen wollte, einem anderen einen Korb gab, um mit mir zu tanzen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass etwas fülligere Frauen, wir sagten damals nicht dick oder gar fett, sondern höchstens korpulent, vollschlank oder mit einem Augenzwinkern griffig, besonders leicht tanzten. Noch etwas war uns damals eigen; da die Tanzflächen meist gerammelt voll waren, bemühten wir uns, als erste auf dem Parkett zu sein, um wenigstens während der ersten Takte mit unserer Partnerin mit großen Schritten über den Tanzboden zu fegen.
Es soll ja Männer geben, die nicht gerne tanzen! Jedenfalls hört man diese Meinung öfter von Frauen geäußert, und die müssen es ja wissen!
Auf mich traf und trifft diese Einschätzung bestimmt nicht zu.
Schon als Baby jauchzte ich glücklich, wenn mich meine Mama auf dem Arm hatte, mich fest an sich drückte, mein linkes Händchen packte, mein Ärmchen ausstreckte und, zum Takt eines Liedchens, welches sie vor sich hin summte, mit mir in der Stube umherwirbelte.
Dieses unbeschreibliche Gefühl von Schwerelosigkeit, begleitet von solchen Empfindungen, wie anschmiegsamer fraulicher Weichheit, körperlicher Wärme und femininen Düften, eben sinnlicher weiblichen Ausdünstungen, die ich dabei spürte, empfand ich immer wieder aufs neue, wenn ich später beim Tanz meine Partnerin an mich drückte und mit ihr über das Parkett schwebte.
Obwohl wir eigentlich schon recht gut tanzen konnten, meldeten Manfred und ich uns dennoch in der Tanzschule Wust-Hefter an. Damit wir uns nicht mit Anfänginnen abplagen mussten, überredeten wir unsere Freundinnen, sich ebenfalls anzumelden. So konnten wir auch in der Tanzstunde zusammen tanzen. Dadurch war es uns möglich, zusätzlich zwei Tage in der Woche (Dienstag und Freitag) tanzen zu gehen.
Neben dem Tanzen lernten wir in der Tanzstunde auch noch gutes Benehmen. Ich habe den Eindruck, das ist heute in den Diskotheken völlig aus der Mode gekommen. Ein Mädchen höflich mit: „Darf ich bitten!“ zum Tanz aufzufordern ist unter der heutigen Jugend uncool. Man winkt mit dem Kopf oder schnippst mit den Fingern, um sich ein Mädchen auf die Tanzfläche zu holen. Und nach dem Tanz geht jeder seiner Wege. Nirgendwo ist es noch üblich, seine Partnerin an ihren Platz zu begleiten. Auch das Tanzen selbst hat mit dem, was ich unter tanzen verstehe, nichts mehr zu tun. Bei diesem Umherhüpfen auf der Tanzfläche, so meine ich, geht doch das erotische Prickeln des sich im Arm halten, was für mich das Schönste beim Tanz ist, völlig verloren.
Als ,Könner‘ benahmen wir uns manchmal auch etwas ungebührlich in der Tanzstunde. So schwenkten wir beim Walzer, ganz gegen die Regel, beim Drehen das rechte Bein lässig nach hinten. Damit brachten wir unsere Tanzlehrerin in Rage. Völlig außer sich über unsere unverzeihliche Entgleisung unterbrach sie dann entrüstet jedes Mal rigoros den Tanz, um uns, wir hatten stets unser Gaudi dabei, ihre Auffassung von Walzer zu demonstrieren.
„Meine Herren, gewöhnen sie sich nicht solche schlechten Manieren an! Wir tanzen den Walzer im Chassé–Schritt!“, ermahnte sie uns, und hüpfte mit „1-2-3, 1-2-3“ auf ihren dünnen Beinen, fast einer Ohnmacht nahe, über das Parkett.
Es war sicher eine Auszeichnung, dass uns unsere Tanzlehrerin nach dem Tanzstundenabschlussball vorschlug, unser tänzerisches Können im Zirkel für Fortgeschrittene weiter zu vervollkommnen. Aber nach gründlicher Überlegung haben wir davon Abstand genommen, denn das wäre uns am Ende doch zu anstrengend geworden.
Ich wundere mich heute selbst darüber, aber in meiner Glanzzeit bin ich sechs mal in der Woche tanzen gegangen; Mittwoch, Sonnabend und Sonntag ins Feldschlösschen, in die Sprucke oder in ein anderes Tanzlokal, Dienstag und Freitag zur Tanzstunde und Donnerstag noch auf den Reipoplatz, wo man draußen auf einem „Pariser“ das Tanzbein schwingen konnte. Und es ist mir damals nie zuviel geworden!
Ich habe, seit ich richtig tanzen konnte, es immer mit Leidenschaft getan. Einschränkend gestehe ich ein, mit zunehmendem Alter bin ich schon etwas bequem geworden. Doch wenn im Radio ein flotter Foxtrott erklingt, dann kommt es schon mal vor, dass ich meine Frau in den Arm nehme und mit ihr in der Stube umherwirbele!
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