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Als mich die Ärztin schließlich aus dem Hospital entließ (von der besten Krankheit wird man letzten Endes einmal geheilt), kam ich nicht mehr ins Hauptlager zurück, sondern wurde, ich weiß nicht genau warum, ins Posener ‚Holzhauslager‘ verlegt. Diesen Namen hatte es erhalten, weil hier die Gefangenen in Holzhäusern lebten. In diesen Holzhäuser soll, so sagte man, während der Besetzung Polens durch Nazi-Deutschland eine SS-Spezialeinheit untergebracht gewesen sein.
Natürlich war auch hier, genau wie in den anderen Lagern, alles überfüllt. Aus Mangel an Plätzen in den Häusern hatten sich einige Gefangene aus den ausgehangenen Fensterläden kleine Hüttchen gebaut, in denen sie, wenigstens etwas geschützt, kampierten.
Ich stand also nach meiner Verlegung allein und verlassen in dem neuen Lager, war zwar einer Hundertergruppe zugeordnet, wusste aber dennoch nicht, wohin. Schließlich erbarmte sich ein jüngerer Gefangener, und nahm mich mit in seine Bude aus Fensterläden. Für zwei Mann war das recht beengt, aber wir hatten wenigstens ein Dach über dem Kopf.
Für das gesamte Lager gab es nur eine Waschbaracke. Dort herrschte ständig großer Andrang. Deshalb nahmen es viele der Gefangenen mit der Hygiene nicht so genau. Auf Anweisung des sowjetischen Lagerkommandanten unternahm die deutsche Lagerleitung, der auch ein Stabsarzt angehörte, regelmäßige Kontrollen, denn die Seuchengefahr war nicht zu unterschätzen.
Neben uns hatte ein Gefangener, etwa in meinem Alter, sein Lager aufgeschlagen, dessen Äußeres einen recht schmuddeligen Eindruck machte. Mit seinem zerzausten Haar, dem vergrauten Gesicht, dem ungewaschenen Hals, der verdreckten Kleidung und den schmutz-starrenden Händen fiel er auch der Kontrollgruppe auf. Der Stabsarzt nahm sich ihn vor: „Sag mal, du altes Schwein hast dich wohl, solange du in Gefangenschaft bist, nicht ein einziges Mal gewaschen!? Los, mach mal deinen Oberkörper frei! - - - Nun seht euch doch das an, überall Pusteln, der Kerl hat ja schon die Krätze. Na, da wollen wir uns doch mal den ganzen Mann besehen! - - - Hose runter! - - - Um Gottes Willen, deine Nille starrt ja auch vor Dreck! Das sieht ja aus, als ob du gerade ein Mauseloch gevögelt hättest.!!! Also, Kameraden“, wandte er sich an die zuschauenden Gefangenen, „der Mann ist selbst nicht in der Lage, sich zu waschen, da müsst ihr mit Hand anlegen, wir können ihn doch nicht im eigenen Dreck ersticken lassen.“
Die Gefangenen, die herumstanden und schadenfroh verfolgt hatten, wie der Dreckfink zusammengeschissen worden war, erinnerten sich wohl alter Barras-Kameradschaftsspäße. Sie schnappten sich den armen Kerl und schleppten ihn in die Waschbaracke, wo er unter dem Gejohle der anderen kalt abgeschrubbt wurde.
Die Verpflegung war im Holzhauslager nicht besonders. Deshalb musste man zusehen, dass man zum Mittag einen Nachschlag bekam. Wer seine Kelle Kapusta* im Kochgeschirr hatte, löffelte, so schnell er konnte, das heiße Zeug hinunter, stellte sich dabei schon wieder hinten an, und kam so, wenn er Glück hatte, in den Genuss einer zweiten Kelle. Diese Angewohnheit, schnell und heiß das Essen hinunterzuschlingen, habe ich mir bis heute nicht abgewöhnen können. Immer wieder muss ich mir von meiner Frau und meinen Söhnen beim Essen sagen lassen: „Mein Gott, schlinge doch bloß nicht so, dir nimmt doch keiner etwas weg“.
Im Lager war man nie davor gefeit, dass man bestohlen wurde. Unsere Tagesration klumpigen Kommissbrotes gab es am Morgen. Wenn man es sofort aufaß, konnte es niemand mehr stehlen, aber man hatte dann am Abend doch verdammten Hunger. Wenn man es sich aber aufteilte, dann hatte man tagsüber noch etwas zu essen; vorausgesetzt, ein anderer hatte es nicht gestohlen und sich daran gütlich getan. Mein Kamerad, mit dem ich die Fensterladen-Behausung teilte, und ich, wir hatten es uns zur Regel gemacht, unsere Brotration einzuteilen und im Tornister aufzubewahren. Einer von uns hielt sich immer in der Nähe unserer Schlafstatt auf, um stets ein Auge auf unserer Brotreserve zu haben. Ich war von der Lauterkeit meines Kameraden überzeugt und vertraute ihm. Eines Tages musste ich mich aber von seiner Schlitzohrigkeit überzeugen. Als ich ganz zufällig einen Blick in unseren Verschlag warf, sah ich, wie mein ‚lieber Freund‘ in meinen Tornister langte, und sich unverfroren ein Stück meiner Brotration einverleibte. Erbost wie ich war, versuchte ich, ihm das Stück Brot zu entreißen. Bei dem Gerangel schnitt ich mir an dem Messer, das er benutzt hatte, in den Handrücken. Die Narbe ist mir bis zum heutigen Tag als ständige Erinnerung an diese fiese Tat geblieben.
Von diesem Augenblick an waren wir ein geschiedenes Paar. Zwar mussten wir noch weiter gemeinsam in unserem Verschlag hausen, waren aber seitdem durch ein breites Brett voneinander getrennt.
Wenn man nichts zu tun hat, plagt einem die Langeweile. Oft lag ich in unserem Verschlag und träumte von der Heimat. Aus den Erzählungen von Soldaten, die bei den Kämpfen in Guben dabei waren, wusste ich, dass meine Heimatstadt in den letzten Kriegstagen stark zerstört worden war. In meinen Visionen sah ich das Land verwüstet und kaum bevölkert. Von meinen Trapper- und Indianerbüchern inspiriert, fühlte ich mich dann wie ein Fallensteller in den nordamerikanischen Wäldern und war fest davon überzeugt, dass ich mir selbst ein Blockhaus bauen müsste und nur noch mit einem Hundeschlitten unterwegs sein könnte. Aus der Ungewissheit heraus geborene, mystisch-romantische Träume, die zum Glück nicht Realität wurden!
* Eintopf aus Weißkohl, daraus bestand überwiegend die Mittagsverpflegung der Gefangenen.
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