FRONTNAHE AUSBILDUNG

Tony Le Tissier vermerkt in seinem Buch: Durchbruch an der Oder (Der Vormarsch der Roten Armee 1945) – Ullstein 1995, Seite 188 – , dass entsprechend einem Hitlerbefehl vom 4. April 1945 Ausbildungseinheiten an die Front geschickt wurden, um dort die Ausbildung abzuschließen, mit der Begründung „...so setzen wir diese Reserve in 2. Linie ein, 8 Kilometer hinter der ersten. Dann sind diese Verbände der ersten Schockwirkung des Vorbereitungsfeuers entzogen und können sich an die Kämpfe gewöhnen...“.

Le Tissier beschreibt hier die ‚frontnahe Ausbildung‘, ich habe sie persönlich erlebt!
Es muss am Montag, dem 9. April gewesen sein, als unsere Einheit, feldmarschmäßig ausgerüstet, jedoch ohne Waffen und Munition, in Wehrmachtsbussen die Kaserne in Berlin-Spandau verließ. Eigenartig an diesem Marschbefehl war jedoch die Festlegung, dass die Behältnisse mit unseren Privatsachen aus der Asservatenkammer der Kaserne auf Transportfahrzeuge zu verladen und mitzuführen seien.
Es dauerte fast den ganzen Tag, bevor unser Konvoi seinen Zielort, Booßen bei Frankfurt/Oder, erreicht hatte. Wir erhielten den Befehl, unsere Behältnisse mit unseren Privatsachen in Empfang zu nehmen und anzutreten. Da standen wir nun, mit den unterschiedlichsten Uniformstücken ausstaffiert, denn wir hatten in der Kaserne ja ausgehändigt bekommen, was die Kleiderkammer zur damaligen Zeit noch so hergab, und nur mit unseren Köfferchen und Persil-Kartons voller eigener Zivilsachen bewaffnet und warteten auf unsere weitere Verwendung. Unsere Ausbilder aus der Kaserne übergaben uns an Führungskräfte des Frankfurter Festungsregiments 8, dem wir von nun an unterstellt waren und fuhren mit den Fahrzeugen zurück in die Kaserne nach Berlin-Spandau. Wir erhielten einige Panzerfäuste und wurden eingewiesen, in einem Schützengraben in einem Wäldchen in der Nähe von Booßen Stellung zu beziehen, und gegebenenfalls angreifende russische Panzer zu bekämpfen. Es war schon eine eigenartige Truppe, die sich da in Bewegung setzte. Halbwüchsige in voller Kampfmontur, von den paar Panzerfäusten abgesehen, unbewaffnet und in den Händen ihre eigenen Habseligkeiten in den unterschiedlichsten Behältnissen. Wir schauten recht verwundert drein. Auch unseren Gruppen- und Zugführern schien das Besondere, um nicht zu sagen Possenhafte, der Situation bewusst, konnten daran aber auch nichts ändern. So krochen wir denn, so wie wir waren, in den Graben und warteten ab. Aber uns war schon klar, mit unseren Köfferchen als Zusatzausrüstung war kein Krieg zu gewinnen. Am anderen Morgen, die Nacht war ruhig verlaufen, holte ich mir gemeinsam mit meinem Kameraden bei unserem Gruppenführer die Erlaubnis, unsere Koffer irgendwo im Dorf bei den Einwohnern zu hinterlegen. Das gelang uns im Gut Gronenfelde, ganz in der Nähe unserer Stellung. Wir atmeten auf! Endlich waren wir von diesem unnützen Ballast befreit. Wenn ich jedoch im Nachhinein über diese Situation nachdenke, so frage ich mich: hatte man uns vielleicht ganz bewusst unsere Privatsachen ausgehändigt, damit wir uns womöglich unbemerkt aus dem Staube machten und man uns so auf recht elegante Art und Weise los geworden wäre? Aber das ist eine unbewiesene Hypothese!
Da unsere jetzigen Ausbilder nichts richtig mit uns anzufangen wussten, versuchten ein Kamerad und ich uns die Langeweile zu vertreiben, indem wir etwas die nähere Umgebung erforschten. Am Rande eines kleinen Wäldchens hinter unserer Stellung fanden wir eine Strohmiete. Da es in der letzten Nacht auf der blanken Erde im Schützengraben doch empfindlich kühl gewesen war, nahmen wir uns deshalb jeder eine Garbe mit. Als wir damit wieder am Graben ankamen, wurden wir von unserem Gruppenführer unfreundlich angeschnauzt: „Wer hat euch denn ins Gehirn geschissen? Einfach ohne Befehl die Stellung verlassen! Seid ihr denn Lebensmüde, allein und ohne Erlaubnis und vor allem ohne Waffen im Niemandsland herumzustromern. Wenn ihr nun auf einen Stoßtrupp der Russen gestoßen wärt? Die hätten euch doch glattweg umgelegt. So was Hirnverbranntes habe ich noch nicht erlebt!! Ihr seid hier doch nicht auf einem Spielplatz, sondern im Krieg! Kinder, wenn ich euer Vater wäre, würde ich euch den Hintern versohlen!! So, nun nehmt euer Stroh und macht, dass ihr wieder in den Graben kommt.“ Unsere Kameraden grinsten schadenfroh, als wir reumütig wieder unsere Stellung bezogen. Aber für uns hatte sich der unerlaubte Ausflug doch gelohnt, denn auf dem Stroh hatten wir es doch angenehmer, als sie auf der blanken Erde.
Wir lagen schon einige Tage in unseren Gräben, als eines Nachts die russische Artillerie, sicher in Vorbereitung ihrer Berlinoffensive, auch unsere Stellung beharkte. Stunde um Stunde schlugen die Granaten um uns herum ein. Wir saßen in unserem Graben und konnten nichts weiter tun als warten. Während um uns herum die Hölle aufgebrochen schien, und wir unsere Feuertaufe erhielten, fielen mir die Zeilen eines heroisches Gedichtchens ein, welches ich einmal im Überschwang patriotischer Gefühle verfasst hatte: „Wir liegen im Graben, die Granaten pfeifen, wann wird uns der Tod ergreifen, wir sind bereit...“
Mit der harten Wirklichkeit konfrontiert, war mir alles andere, als nach Heldentod. Aber eigenartig, ich hatte auch keine Angst. Mich hatte eine leck-mich-am-Arsch-Stimmung ergriffen und mir war alles ganz egal. Als es zu dämmern begann, ließ das Artilleriefeuer nach. Es waren nur noch vereinzelte Granaten, die um uns herum detonierten. Da surrte es plötzlich bedrohlich über mir. Ein Granatsplitter flog in den Graben und landete mit einem dumpfen Plop neben mir. Es war zum Glück der einzigste, den wir in unserem Graben abbekamen, und der Gott sei Dank keinen Schaden anrichtete. Als ich mir den etwa 5-Mark-Stück großen Splitter ansehen wollte, verbrannte ich mir lediglich an dem heißen Eisen die Finger. Als er abgekühlt war, habe ich ihn mir als Talisman eingesteckt. Er hat mich begleitet, bis ich aus der Gefangenschaft wieder zu Hause war.
Mit der Schockwirkung dieses Feuerzaubers hatten wir uns, ganz im Sinne der frontnahen Ausbildung, an die Kämpfe gewöhnen können.
Aber dabei sollte es nicht bleiben!
Hinter unserer Stellung war ein Nebelwerfer auf mobiler Lafette im Einsatz. Das war eine, nach seinem Konstrukteur Rudolf Nebel benannte sechsrohrige Raketenwaffe, auch unter der Tarnbezeichnung „DO-Werfer“ bekannt. Aus Mangel an Munition feuerte er nicht sehr oft. Da er ständig seine Einsatzposition änderte, konnte ihn die Sowjetarmee schlecht ausmachen. Aber, wenn hin und wieder die sechs Raketen nacheinander mit durchdringendem Gezische und Geheule, eine lange Rauch- und Feuerspur hinter sich herziehend, abgefeuert wurden, brauchten wir auf die Antwort der Russen nicht lange zu warten. Sie kam von einer Katjuscha, der sogenannten ‚Stalinorgel‘. Aber es gab einen sehr bemerkenswerten Unterschied; auf 6 Raketen von uns erhielten wir mindestens 48 aus der Stalinorgel zurück, und zwar immer in Salven zu je 8 Stück!
Ich kann also aus eigener Erfahrung mit vollem Recht sagen: Frontnahe Ausbildung war für Hitlers letztes Aufgebot weiter nichts als Gewöhnung an den sinnlosen Tod!
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