FREIZEITVERGNÜGEN

Lange Weile hatte ich keine, obwohl die Möglichkeiten, die Freizeit zu gestalten, mit dem Fortgang des Krieges immer weiter eingeschränkt wurden.

Oft und gerne bin ich ins Kino gegangen. Ich hatte keine Vorlieben. Was die Gubener Kinos aufführten, sah ich mir an. Ich führte auch darüber Buch. Die Gubener Zeitung brachte regelmäßig die Ankündigungen, was im Passage-Theater, im Central-Theater, im Ufa-Filmtheater und in den Kammerlichtspielen gespielt wurde.

Kino-Ankündigungen, Gubener Zeitung vom 30. / 31. Oktober 1943 (Faksimile)
Diese Anzeigen schnitt ich mir aus, klebte sie in ein altes Oktav-Heft und vermerkte akkurat, welchen Film ich wann gesehen hatte. Natürlich setzten wir alles daran, uns auch Filme anzusehen, die nicht jugendfrei waren. Das gelang uns meist ohne Schwierigkeiten. Wir dachten damals überschwänglich, wir hätten die Kartenverkäuferin oder die Platzanweiserin getäuscht, weil wir recht erwachsen taten, mit einer Zigarette im Mundwinkel angaben und unseren Hut tief ins Gesicht zogen. In Wirklichkeit war es sicher nur ihre Gleichgültigkeit, die es uns ermöglichte, auch Filme zu sehen, zu denen Jugendliche eigentlich keinen Zutritt hatten. Nur bei dem um 1942/43 gedrehten Ufa-Farbfilm Münchhausen mit Hans Albers und Ilse Werner, der für die damaligen Verhältnisse skandalös freizügig und offenherzig und deshalb erst ab 18 Jahre zugelassen war, scheiterten all unsere Bemühungen. Selbst der verrückte Versuch, uns mit abgebrannten Streichhölzern auf der Oberlippe ein Menjoubärtchen anzumalen, um älter auszusehen, brachte nicht den gewünschten Erfolg.
Ein anderer Zeitvertreib für uns damals war, auf die Promenade zu gehen. Wir flanierten gruppenweise in der Stadt herum, trieben allerhand Unfug, ärgerten den Streifendienst der HJ und bandelten mit Mädchen an. Durch meinen Freund Werner Brauer kam ein Mädchen in unsere Gruppe, mit der er sehr gut befreundet war. Ursel, so hieß die Kleine, war ein aufgewecktes Kind. Sie gefiel mir auch und so wurde ich zum Rivalen meines Freundes. Ursel fand es sicher wohltuend, von zweien verehrt zu werden und ließ uns zappeln. Wer ihr Favorit war, blieb bis zum Ende unklar. Vielleicht wusste sie es selbst nicht genau.
Ursel
Unsere Promenade, auf der wir lustwandelten, war die Strecke von den Kammerlicht-spielen über die große Neißebrücke bis zum Passage-Theater und wieder zurück. Manchmal waren wir stunden-lang so unterwegs, ohne dass uns die Zeit lang wurde. Da wir, sowohl wegen unseres Aus-sehens (lange Haare und auffallende Kleidung) als auch wegen unseres aufmüpfigen Verhaltens nicht in das nationalsozialistische Jugendbild passten, machte der Streifendienst der HJ, besonders, wenn wir Abends länger unterwegs waren, regelrecht Jagd auf uns. Da sich unsere Cliquen gegenseitig warnten, konnten wir uns meist rechtzeitig verkrümeln, so dass wir selten erwischt wurden. Wenn wir doch einmal dem HJ-Steifendienst in die Hände fielen, so hatte das zur Folge, dass wir zu Wochenend-Strafarbeit verdonnert wurden. Diese Arbeitseinsätze, zum Beispiel in der Gruppe unter Aufsicht eines Polizisten Strasse fegen oder innerstädtische Parkanlagen säubern, führten aber nicht zu unserer Besserung. Im Gegenteil, sie festigten unsere Cliquengemeinschaft und wurden von uns als eine Art Ehrensache betrachtet.
Ein Jugendlicher, der uns auffiel, weil er bei seinen Promenade-Spaziergängen stets seinen großen Schäferhund bei sich hatte, und deshalb vom Streifendienst der HJ kaum behelligt wurde, genoss unsere Bewunderung, und wir wären gern seine Freunde gewesen. Er aber, ich weiß nicht warum, war und blieb ein Einzelgänger.
In den Sommermonaten stromerten wir auch gern in den Gubener Bergen herum. Die Himmelsleiter hinauf, durch die schattigen Obstgärten, ging es zum Bismarkturm, zur Schnecke oder zur Einsamen Fichte. Irgendwo, in einem lauschigen Weinlokal, tranken wir unsere Brause und auf dem Heimweg, meist dunkelte es schon, wurde in einem Garten noch ein Kirsch-, Apfel-, Birnen- oder Pflaumenbaum geplündert.
Ich, auf dem obersten Rand des Bismarkturmes 1942
In der kälteren Jahreszeit zog es uns in die Kneipen. In den meisten stand ein Lochbillard. Gegen Entrichtung eines geringen Obolus bekam man vom Wirt die Billardkugeln ausgehändigt und konnte spielen, so lange man wollte. Wir unterbrachen unser Spiel nur, um zwischendurch etwas zu essen, denn Hunger hatten wir damals immer. Anfänglich gab es in den Gaststätten recht preiswert noch markenfreies Stammessen. Als damit in den letzten Kriegsjahren Schluss war, schlugen wir uns bei unseren Kneipenbesuchen den Magen mit Muschelfleisch und Salzkartoffeln voll. Diese nicht sehr appetitlich aussehenden, salzig schmeckenden Meeresfrüchte, bei deren Verzehr einem der Sand zwischen den Zähnen knirschte, gab es ohne Einschränkungen bis zum Ende. Und wir taten uns bei einem Glas Malzbier daran gütlich, solange es ging.
Ein Anziehungspunkt für uns Jugendliche waren auch die Kaffee-Konzerte der Gubener Stadt-Pfeifer im Bergschlösschen. Musiker der Wolffs’schen Stadtkapelle spielten dort etwa bis Mitte 1944 am Sonntag nachmittag in der Tanzmusikbesetzung, die sich früher mal Tango-Buben nannte, flotte Weisen zur Unterhaltung. Tanzen durfte man damals schon lange nicht mehr.
Wenn ich zum Kaffee-Konzert ging, machte ich mich fein. Ich wollte ja wirken. Zum dunklen Einsegnungsanzug gehörte ein Schlips. Im hellen Gabardine-Mantel meines Vaters, den ich mir immer heimlich anzog, weil ich ihn fesch fand, obwohl er mir etwas zu groß war, und einem lässig eingelegten weißen Seidenschal von meiner Mutter fühlte ich mich wie mein Idol, Johannes Heesters.
Wenn ich im Bergschlösschen ankam, herrschte dort meist schon reger Betrieb. Der Saal, in dem jetzt auch auf der Tanzfläche Tische und Stühle standen, war voll besetzt. Die Masse der Konzertbesucher waren Soldaten, die in Gruppen bei einem Glas faden hellen Kriegsbieres an ihren Tischen fläzten, mit ihren Zigaretten den Raum verqualmten und mit anzüglichen Bemerkungen versuchten, ein Mädchen aufzureißen. Die Musiker taten ihr Bestes, um mit ‚Heimat, deine Sterne‘, ‚Lili Marlen‘ oder ‚Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern‘, den Krach, den die Landser verursachten, zu übertönen. Wir 15- bis 16-jährigen erlebten dieses Tohuwabohu meistens an einen Tisch verbannt, der irgendwo in einer Ecke des Saales stand. Natürlich waren wir auch bemüht, ein bisschen Aufmerksamkeit zu erlangen, indem wir uns an großen Biergläsern festhielten und weltmännisch unsere Glimmstängel pafften. Wir hatten aber gegenüber den Uniformträgern so gut wie keine Chancen.
Inge
Nach so einem Kaffee-Konzert stand ich an der Garderobe, um meinen Mantel zu holen. Neben mir stand ein junges, vielleicht 14 Jahre altes Mädchen, das mit seiner älteren Schwester ins Bergschlösschen gekommen war.
Zu meiner Überraschung sprach sie mich an. „Bist du öfter hier und ist es immer so voll?“, fragte sie mich neugierig. Als ich bejahte, wollte sie wissen: „Wie hat es dir denn gefallen?“
„Eigentlich recht gut, nur der Krach war zu groß und deshalb die Musik schlecht zu hören“, bekannte ich offen.
„Das stimmt“, bestätigte sie meine Einschätzung, und fügte dann noch hinzu, „aber mir waren die Soldaten hier zu aufdringlich. Das nächste Mal wird meine Schwester wohl alleine hier her gehen müssen.“
Es gab kein nächstes Mal. Der totale Krieg beendete für uns rigoros jede Art von Frei-zeitvergnügen.
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