JUGENDARREST
Ich hatte einen Menschen getötet. Dafür musste ich mich vor dem Gubener Amtsgericht verantworten. Auf Geheiß des leitenden Richters schilderte ich wahrheitsgemäß, wie sich der Vorfall zugetragen hatte. Das Gericht zweifelte aber an der Richtigkeit meiner Darlegungen. Niemand wollte mir glauben, dass mein Freund und ich wirklich sehr sorgsam und umsichtig mit der Pistole umgegangen waren und das tragische Unglück für uns selbst überraschend eingetreten war.
Ein Kriminalbeamter, der die näheren Umstände meines tödlichen Schusses untersucht hatte, bestätigte glücklicherweise die Richtigkeit meiner Aussagen. „Ich habe“, so führte er aus, „mit dem Schussopfer vor seinem Ableben im Krankenhaus noch sprechen können. Der Junge schilderte mir den Vorfall genau so, wie ihn hier der Angeklagte vorgetragen hat. Das Gericht kann also in seiner Entscheidung wirklich davon ausgehen: der Schuss war nicht Ergebnis leichtsinnigen Handelns der beiden, sondern das Resultat einer verhängnisvollen Unachtsamkeit, an der beide gleichermaßen Schuld hatten.“
Dieser Aussage hatte ich es zu verdanken, dass mich das Gericht im Namen des Volkes nur zu ‚...14 Tagen Jugendarrest wegen fahrlässiger Tötung...‘ verurteilte.
Am Montag, dem 2.Januar 1944, in der Frühe, machte ich mich auf den Weg nach Fürstenberg (Oder), um im dortigen Jugendgefängnis meine Strafe anzutreten.
Es hatte zu Sylvester etwas geschneit. Am Fenster meines Eisenbahnabteils huschte die mit grauweißem Matsch bedeckte Landschaft vorüber. Der Himmel war mit dicken Wolken verhangen und ein feucht-kalter Wind wehte. Wie das Wetter, so war auch mein Gemütszustand, trübselig und bedrückt.
In dieser niedergeschlagenen Verfassung meldete ich mich beim diensthabenden Vollzugsbeamten. Der nahm recht teilnahmslos meine Personalien auf, verpasste mir die triste Gefängniskleidung, informierte mich im groben, wie sich der Gefängnisalltag im allgemeinen vollzieht und wie ich mich zu verhalten habe und schloss mich dann in meine Zelle ein.
Da saß ich nun und hatte Zeit, mir meine Zelle anzusehen und darüber nachzudenken, was mich hier so erwartet.
Meine Zelle war ein länglicher, kahler Raum. Die Wände waren weiß gekalkt. Gleich rechts neben der Tür war ein kleiner Kachelofen, der aber vom Korridor aus geheizt werden musste. Gleich hinter dem Ofen stand ein Schemel und davor ein roher Tisch. Über dem Tisch war ein Wandregal angebracht, in dem sich der Essnapf, eine Tasse und ein Löffel und zwei Bücher, die Bibel und Hitlers: Mein Kampf, befanden. Links neben der Tür stand der Fäkalien-Bottich und darauf die Emailleschüssel zum Waschen, daneben der Wasserkrug. Der Platz in der linken hinteren Ecke wurde von der hölzernen Schlafpritsche ausgefüllt. Auf der Pritsche lag eine harte Matratze, ein Kopfkissen und zwei Decken zum zudecken. Im oberen Bereich der hinteren Wand war ein schmales längliches Fenster eingelassen, das von außen vergittert war. Schwach erhellt wurde der Raum von einer Glühbirne, die in ihrer Fassung ohne Schirm von der Decke baumelte. Das Licht konnte aber nur von außen ein- und ausgeschaltet werden. In der Zellentür war ein Spion eingelassen, damit der Wärter jederzeit von außen sehen konnte, was sich in der Zelle ereignet, sowie eine Klappe, die sich auch nur von außen öffnen lies und durch die man Dinge, wie Essen usw., reichen konnte, ohne die Tür öffnen zu müssen. Natürlich war die Tür nach innen ohne Klinke.
Der Tagesablauf im Gefängnis war straff militärisch geregelt. Um 6.00 Uhr früh war Wecken. Das erfolgte für alle durch eine Handsirene, die vom Kalfaktor, einem schon länger einsitzenden Häftling, bedient wurde. Wir mussten sofort aufstehen, konnten, wenn nötig, unsere Notdurft verrichten, uns waschen, anziehen und die Pritsche machen. Dann wurden die Zellentüren geöffnet, und alle Häftlinge hatten vor ihrer Zelle zum Appell anzutreten. Der verantwortliche Justizbeamte ging von Zelle zu Zelle und jeder Häftling hatte Haltung einzunehmen und Meldung zu machen. Mein Sprüchlein lautete: „Häftling Krause, Zelle 16, 14 Tage Jugendarrest wegen fahrlässiger Tötung.“ Die gleiche Meldung hatten wir auch zu machen, wenn tagsüber ein Wärter unsere Zelle betrat. In diesem Fall mussten wir im hinteren Teil der Zelle stramm stehen. Während des Morgenappells erfuhr man, weswegen die anderen Häftlinge im Gefängnis waren. Die Palette reichte von einfachen Vergehen, wie ‚HJ-Dienst schwänzen‘ oder ‚Feindsender hören‘ bis zu schweren Straftaten, wie ‚Schwerer Raub unter Ausnutzung der Verdunkelung‘, ‚Vergewaltigung‘ oder ‚Verprügeln eines HJ-Führers‘.
Nach dem Appell hieß es: ‚Fäkalien-Kübel leeren und säubern!‘ Der Kalfaktor mit seinen Helfern kontrollierte das Ganze und machte sich dann daran, die Öfen zu heizen. Wir anderen gingen wieder in unsere Zellen zurück und bekamen durch die Luke unser Frühstück: Eine Tasse Malzkaffee, zwei Scheiben Kommisbrot, etwas Margarine und einen Klecks Marmelade. Geschmiert wurde mit dem Löffelstiel, Messer waren verboten.
Am Vormittag mussten wir in unserer Zelle arbeiten. Wir bekamen jeder einige Handvoll, in zehn Zentimeter lange Stücke zerhackte, Hanfseile, die wir auftriesel und in Werg zerzupfen mussten. Dazu konnten wir mit unserem Schemel an den Ofen rücken, so dass wir warm saßen. Es war eine recht stupide Tätigkeit, aber immer noch besser, als nichts zu tun zu haben.
Um 12.00 Uhr bekamen wir unser Mittagessen. Unter der Woche gab es nur Eintopf, recht wässrig und nicht sehr abwechslungsreich. Nur Sonntag konnten wir damit rechnen, Salzkartoffeln mit Lungenhaschee oder Grützwurst, und wenn Feiertag war, eventuell sogar mit Gulasch zu bekommen, aber es musste mit dem Löffel zu essen sein.
Nach dem Essen war etwa eine Stunde Pause. Wer wollte, konnte lesen. Da ich die Bibel kannte, und Mein Kampf mir zu langweilig war, saß ich in diesen Stunden auf meinem Schemel am Ofen und döste vor mich hin, denn auf die Pritsche legen war tagsüber streng verboten.
Von 14.00 bis 16.00 Uhr waren wir wieder mit dem auftrieseln von Hanfseilen beschäftigt. Danach war für ein und eine halbe Stunde Freigang vorgesehen. Das sollten zwar Spaziergänge auf dem Gefängnishof sein, wegen des schlechten Wetters beschränkte sich unser ‚Freigang‘ aber darauf, während dieser Zeit mit unseren Holzpantinen im Gefängniskorridor herumzuklappern.
Um 18.00 Uhr war Abendbrotzeit. Es gab eine Tasse Kräutertee, wieder zwei Scheiben Kommisbrot, etwas Margarine und ein bisschen Streichwurst, meistens Leberwurst oder Braunschweiger.
Um 21.00 Uhr war Nachtruhe, da hatten wir auf unseren Pritschen zu liegen. Nach einem kontrollierenden Blick durch den Spion löschte dann der Diensthabenden das Licht in den Zellen und im Bau hatte Ruhe zu herrschen.
Einmal in der Woche bekam jeder Gefängnisinsasse verschärften Arrest. Das bedeutete: Es gab zu den Essenszeiten nur Trockenbrot und Wasser, und Nachts bekam man nur eine Decke und musste auf der harten Pritsche schlafen.
Die Zeit verging in ihrer monotonen Eintönigkeit nur langsam. Ich war überrascht, als zwei Tage vor meiner Entlassung, am Freitag früh, der Oberaufseher in meine Zelle kam und mich fragte, ob ich nicht mit drei anderen Insassen helfen wolle, seinen Garten umzugraben. Ich weiß nicht, warum er gerade mich mit ausgewählt hatte, aber ich empfand es als eine gewisse Anerkennung für gute Führung. Sei es wie es sei, ich sagte zu, obwohl das Wetter nicht sehr einladend war, brachte doch diese Tätigkeit etwas Abwechselung in meinen tristen Alltag. Wir bekamen festes Schuhwerk, eine wattierte Jacke, Handschuhe und Mütze und begaben uns in den Garten des Oberaufsehers. Der Schnee hatte den Boden aufgeweicht. In einer Ecke lag ein Haufen Mist. Es war schon recht anstrengend, unter diesen Umständen den Dung zu verteilen und in diesem Matsch unterzugraben. Nachdem wir etwa 2 Stunden geschuftet hatten, brachte uns der Vollzugsbeamte ein ausgiebiges Frühstück, heißen Kaffee, dick mit Wurst belegte Butterbrote und gekochte Eier. Danach legten wir uns besonders ins Zeug und bestätigten die Richtigkeit des Sinnspruchs: Wer gut isst, arbeitet auch gut!
Zum späten Nachmittag, es dunkelte bereits, hatten wir den Garten umgegraben. Der Gefängniswärter staunte. Er hatte soviel Arbeiteifer bei uns nicht erwartet. Zufrieden mit dem Ergebnis lud er uns zu sich nach Hause zum Kaffee ein. Seine Frau, eine freundliche ältere Dame, hatte einen frischen Kuchen gebacken und in der wohlig-warmen Wohnstube liebevoll den Kaffeetisch gedeckt. Wir ließen unsere nassen und schmutzigen Sachen in der Veranda und setzten uns mit ein wenig scheuer Zurückhaltung an den einladenden Tisch. Es dauerte einige Zeit, bis wir unsere Befangenheit überwunden hatten; dann aber langten wir tüchtig zu und ließen uns den köstlichen Kuchen schmecken. Es war erstaunlich, wie in der häuslichen Umgebung aus dem strengen Gefängnisaufseher ein liebevoller Gatte wurde, der seine Frau rührend unterstützte und ein gemütlicher Opa, der uns mit einem Augenzwinkern Anekdoten aus dem Gefängnisalltag erzählte. Von der ungezwungenen Atmosphäre ermutigt, berichteten auch wir von unseren Sorgen und Problemen und waren glücklich über die Anteilnahme, die wir von der Frau unseres Wärters erfuhren.
Als wir am Abend wieder in die Haftanstalt zurück mussten, erhielt jeder von uns ein 5-Mark-Stück in die Hand gedrückt und ein Päckchen mit Kuchen zum mitnehmen.
Es kann sein, dass mich meine Erinnerungen täuschen, aber nach unserem Einsatz im Garten des alten Wärters, so hatte ich den Eindruck, waren auch die anderen Justizbeamten freundlicher zu uns.
Die beiden letzten Tage meines Arrestes im Knast vergingen wie im Fluge. Am Montag in der Frühe wurde ich wieder ins zivile Leben entlassen. Als ich mich verabschiedete, nahm mich der alte Wärter noch einmal zur Seite und sagte mir voller Fürsorge, so wie ein Großvater seinen Enkel ermahnt: „Junge, sieh zu, dass wir uns hier nicht mehr wiedersehen müssen.“
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