ZAHNBEHANDLUNG

Zweimal am Tage Zähneputzen ist heute eine Selbstverständlichkeit. In meiner Kindheit hatte diese Tätigkeit für mich so gut wie keine Bedeutung. Wenn ich mich recht erinnere, putzten wir uns damals recht selten die Zähne. Das schien aber nicht nur bei uns der Fall zu sein, denn viele Kinder hatten in dieser Zeit, so wie ich, hässlichen Zahnbelag. Da ich das selbst unangenehm empfand, habe ich mir diesen Belag oft mit dem Fingernagel heruntergekratzt. Auf meine ersten, die Milchzähne, hatte das kaum Auswirkungen. Wenn einer wackelte, entfernte ihn mein Vater, indem er einen Zwirnsfaden mit einer Schlinge um den Zahn legte und mit einem Ruck daran zog. Einen anderen Zahn habe ich mir an einer sauren Gurke selbst ausgebissen.

Später hatte die mangelnde Zahnpflege aber unangenehme Folgen. Die Karies griff viele Zähne an. Als ich in der Lehre war, bekam ich auf einmal dolle Zahnschmerzen. Ein Backenzahn hatte ein großes Loch. Um die Schmerzen zu lindern, wurden allerhand Hausmittelchen ausprobiert. Als erstes nahm meine Mutter das Federkopfkissen weg, weil dadurch die Schmerzen verstärkt wurden und ließ mich auf einer Decke schlafen. Dann steckte sie mir die Köpfe von Gewürznelken in das Loch, um die Schmerzen zu betäuben. Schließlich musste ich mir ein angewärmtes Säckchen mit Leinsamen an die Backe halten. Es half aber alles nichts, die Scherzen wurden immer schlimmer. In meiner Verzweiflung habe ich mir im Betrieb sogar Fensterkitt in den hohlen Zahn geschmiert. Doch der Zahn puckerte und puckerte und ich hätte vor Schmerzen Kopf stehen können. Dann wurde auch noch die Backe dick. Nun war es höchste Zeit, zum Zahnarzt zu gehen. Nach Feierabend machte ich mich also auf die Socken und suchte in der Nähe einen Zahnklempner. Gleich hinter der ‚Süßen Quelle‘ entdeckte ich endlich ein Schild: ‚Käte Rawengel, Dentistin‘.
Ich also die Treppe hinauf in den 1. Stock, wo die Zahnärztin ihre Behandlungsräume hatte. Im Wartezimmer war kein Mensch. ‚Gott sei dank‘ dachte ich, dann kommst du wenigstens gleich dran. Eine ältere Dame im weißen Kittel öffnete etwas tapperich die Tür. „Der Nächste bitte“, forderte sie mich auf, einzutreten, was ich trotz meiner misslichen Lage etwas seltsam fand, denn vor mir war ja niemand im Behandlungszimmer gewesen. Nachdem ich mich in den Zahnarztstuhl gesetzt hatte, kramte die Zahnärztin, sie hatte keine Sprechstundenhilfe und machte alles allein, umständlich in ihren Gerätschaften, beugte sich dann über meinen geöffneten Mund, rückte ihre Brille zurecht und mit der Bemerkung: „Na, dann wollen wir doch mal sehen!“, begann sie zwischen meinen Zähnen herumzustochern. Als sie an den kranken Zahn kam, konnte ich ein gequältes „Auuu!“ nicht unterdrücken.
„Oh, das sieht aber gar nicht gut aus! Wenn wir den Zahn halten wollen, dann werden wir wohl eine Wurzelbehandlung machen müssen“, sagte sie mehr zu sich als zu mir. Dann setzte sie den altmodischen Bohrer in Gang; und ohne sich um mein Gewimmer zu kümmern, rumorte sie in dem Loch meines Backenzahnes herum. Mir traten die Tränen in die Augen. Ich begann, alles ganz verschwommen zu sehen. Auch die Komturen des runzeligen Gesichts über mir zerflossen und ich hatte den beängstigenden Eindruck, dass es immer mehr die Züge von des Teufels Großmutter annahm.
Doch auch das schlimmste Martyrium geht einmal vorüber. Die schmerzstillende Füllung begann zu wirken. Nur noch den Geschmack des Betäubungsmittels auf der Zunge, schwankte ich aus dem Behandlungsraum.
Zwei Wochen lang, jeden 2. Tag, erneuerte Dr. Rawengel die Füllung, bis der Nerv abgetötet war. Dann nahm sie einen schraubenähnlichen Draht, drehte ihn in das Loch und schabte das abgestorbene Gewebe heraus. Das war trotz der vorangegangenen Behandlung immer noch recht schmerzhaft.
Die Zahnärztin roch an dem Draht und eröffnete mir dann mit besorgter Miene: „Es ist noch nicht alles abgestorben, vielleicht ist auch noch ein Eiterherd an der Wurzel, da werden wir noch mal ran müssen.“ Daraufhin bohrte sie den Wurzelhals auf, saugte den Eiter ab und bepinselte die Öffnung mit einem antiseptischen Mittel.
Erst, als sie ganz sicher war, dass die Wurzelbehandlung erfolgreich war, verschloss sie den Zahn mit einer Amalgamplombe. Der Zahn war gerettet.
Ich habe in den vergangenen 55 Jahren viele meiner Zähne verloren. Aber der Backenzahn, den Frau Dr. Rawengel damals behandelt hat, der hat die Jahre überstanden und dient heute noch als Halt für eine Klammer meiner Dritten.
Behandlungskunst par Excellenze der alten Schule!
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