SCHÜTZENVEREIN
Solange ich mich zurückerinnern kann, hat mein Vater, neben seiner offiziellen Arbeit in der Tuchfabrik, nach Feierabend auch noch schwarz in seinem gelernten Beruf als Schuhmacher gearbeitet. Dann verwandelte sich unsere Küche in eine Schuhmacherwerkstatt, und bei heruntergezogener Küchenlampe reparierte mein Vater schiefe Absätze, besohlte durchgelaufenes Schuhwerk, schloss mit selbstgemachtem Pechdraht aufgeplatzte Nähte und fertigte auf Wunsch auch handgearbeitetes Schuhwerk an. Durch diese Tätigkeit besserte er nicht unerheblich die schmale Familienkasse auf. (Oder verschaffte er sich vielleicht doch bloß eine zusätzliche persönliche Einnahmequelle? Ich weiß es nicht mehr genau.)
In den letzten Kriegsjahren, als der Arbeitskräftemangel immer größer wurde, ging mein Vater mit dem Schuhmachermeister Richard Geisler, der seine Werkstatt in der Kurmärkischen Strasse 47 hatte, sogar ein zweites, offizielles, Arbeitsverhältnis ein.
Eines Tages eröffnete mein Vater meiner Mutter: „Grete, ich bin Mitglied im Schützenverein geworden!“
Meine Mutter war von dieser Mitteilung gar nicht begeistert. „Otto, hast du dir diesen Schritt auch gründlich überlegt. Musst du denn ausgerechnet als Arbeiter in einen solchen Verein gehen, in dem hauptsächlich Geschäftsleute und Handwerksmeister Mitglieder sind?“ fragte sie mit bangem Zweifel. „Der Mitgliedsbeitrag ist sicher nicht das Problem, denn so hoch wird er ja nicht sein. Aber du bist kein schlechter Schütze. Stell dir vor, du wirst mal Schützenkönig. Dann bist du verpflichtet, den ganzen Verein freizuhalten. Das können wir uns doch gar nicht leisten!“ machte sie ihre berechtigten Einwände geltend.
„Sieh mal, Grete“, versuchte mein Vater ihre Bedenken zu zerstreuen, „mein Großvater und mein Vater waren im Schützenverein, warum soll ich nicht auch in einem Schützenverein sein. Ich weiß doch, dass man Schützenkönig nicht wird, sondern dass man zum Schützenkönig gemacht wird, und da brauche ich überhaupt keine Bange zu haben. Schiessen macht mir eben Spaß, deshalb bin ich Mitglied geworden.“
Dass das aber nur die halbe Wahrheit war, wusste er selbst am besten. Seine kleinbürgerliche Borniertheit, als gelernter Schuhmacher mehr sein zu wollen, als ein einfacher Arbeiter, hatte ihn vor allem zu diesen Schritt bewogen. Deshalb war er also jetzt Mitglied im Schützenverein „Germania“, als dessen Vorsitzender bezeichnenderweise der Schuhmachermeister Richard Geisler fungierte, bei dem mein Vater nach seiner regulären Arbeit in der Tuchfabrik aushilfsweise tätig war.
Mir war das alles ganz egal. Ich war stolz auf meinen Vater. Wenn im Verein Schiesswettbewerbe ausgetragen wurden, durfte ich manchmal mit. Das war für mich jedes Mal ein Erlebnis, denn wir Jugendlichen bekamen dann die Möglichkeit, mit Luftgewehren zu schießen, und wer die höchste Ringzahl erreichte, bekam einen kleinen Preis überreicht.
Übrigens, Schützenkönig ist mein Vater wirklich n i e geworden, obwohl er ein guter Schütze war!
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