GIPFELSTÜRMER

Gleich hinter Fleischer Bocksch ging von der Kurmärkischen Strasse die Einfahrt zum Straßenbahndepot ab. Lange Zeit lagen dort auch noch die alten Schienen im Straßenpflaster eingebettet. Als 1938 der Straßenbahnverkehr eingestellt wurde, diente die große Halle den Städtischen Verkehrsbetrieben zum Unterstellen ihrer Busse. Nach 1945 war noch für eine gewisse Zeit darin Wochenmarkt.

Wenn ich als Kind von der Grünstrasse über die Mauer der NSV schaute, konnte ich das Dach des Straßenbahndepots sehen. Es war ein relativ flaches Spitzdach mit Teerpappe gedeckt. Der Giebel mit den großen Toren war als Brandmauer ausgeführt und überragte das Dach um cirka einen halben Meter. Gleich hinter dieser Mauer war eine hölzerne Leiter angebracht, die bis zur Dachspitze reichte.
Mein Freund Karl und ich trugen uns schon lange mit dem Gedanken, über diese Leiter einmal das Dach zu besteigen und so unseren Mut zu beweisen. Als es im Herbst abends früher dunkel wurde, entschlossen wir uns, nun endlich unser Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wir schlichen durch das offen stehende Tor in der Grünstrasse in die parkähnliche Anlage. Das Dach des kleinen Schuppens zu erklimmen, der rechts im Hintergrund des Parkes stand und in dem tagsüber Fahrräder untergebracht waren, bereitete uns keine Schwierigkeiten. Von dort über das, etwa einen Meter höhere, Dach der sich anschließenden Remise bis zur Straßenbahnhalle zu gelangen, war noch einfacher. Karl, der Turnschuhe anhatte, stieg fast lautlos die Leiter bis zur Dachspitze empor. Ich folgte ihm. Da ich aber meine hohen Schuhe anhatte, verlief mein Aufstieg doch etwas geräuschvoller. Als ich oben ankam, war Karl schon mutig über den Dachgiebel zur anderen Hallenseite balanciert. Mit meinem festen Schuhwerk gelang mir das nicht. Ich musste vorsichtig auf allen Vieren zur anderen Seite rutschen. Wir fühlten uns beide in der luftigen Höhe als Gipfelstürmer, wie unser Filmheld, der Herr der Berge, Luis Trenker. Unsere Hoffnung, auf der anderen Hallenseite auch eine Leiter zu finden, an der wir absteigen konnten, erfüllte sich leider nicht. Wir mussten also notgedrungen über das Dach zurück. Als wir wieder an der Leiter angelangt waren und über die Giebelmauer schauten, rutschte uns vor Schreck das Herz in die Hosen. Auf dem kleinen Platz vor dem Depot standen zwei Arbeiter und leuchteten mit einer Taschenlampe nach oben. Sie hatten bestimmt die Geräusche vernommen, die ich mit meinen schweren Tretern auf dem Dach verursacht hatte und versuchten nun dahinter zu kommen, von wem diese Geräusche stammen.
Wir beide verhielten uns da oben mucksmäuschenstill, aber unsere Herzen schlugen uns bis zum Halse. Dass wir ertappt werden würden, damit hatten wir nicht gerechnet. Hinter die Mauer geduckt, hörten wir, wie der eine Arbeiter zu dem anderen sagte: „Wilhelm, ich glaube, da ist irgend jemand auf dem Dach. Steige doch mal hinten rauf und sieh nach. Ich passe hier vorne auf.“
„Los, wir müssen hier weg, damit wir nicht noch erwischt werden“, flüsterte mir Karl zu, sauste auf seinen leisen Sohlen die Leiter hinunter und verschwand in der Dunkelheit. So leise ging das bei mir nicht. Aber nun war mir auch schon alles ganz egal. So schnell ich konnte, trampelte ich die Leiter hinab und sauste über das Remisendach. Auf einmal trat ich ins Leere und knallte mit voller Wucht auf das tiefer liegende Schuppendach. Ich hatte in der Aufregung nicht mehr an den Dachabsatz gedacht. Vorsichtig tastete ich mich nun an den Rand des Schuppens und sprang, obwohl mir meine Knie schmerzten, beherzt die zwei Meter in die Tiefe. Die Angst im Nacken, hastete ich durch die dunkle Parkanlage der NSV. Dass mir dabei die Zweige von Sträuchern, durch die ich hindurchpreschte, schmerzhaft das Gesicht peitschten, war mir dabei völlig egal.
Als ich außer Atem, mit zitternden Knien, lädiert und zerzaust, endlich wieder auf der Grünstrasse stand, war von meinem Freund Karl nichts mehr zu sehen. Er hatte sicherheitshalber das Weite gesucht.
Auch ich verschwand in unserem Haus.
„Junge, wie siehst du bloß wieder aus!?“, wunderte sich meine Mutter, die gerade beim Abendbrot machen war, als ich in die Küche kam. „Wasch dich und komm essen.“
Voller Sorge, dass ich erkannt worden war, saß ich am Tisch, und schreckte jedes Mal zusammen, wenn draußen eine Tür klappte oder eine Klingel schellte. Die Zeit verging und nichts passierte. ‚Gott sei Dank‘, dachte ich, ‚das scheint ja noch mal gut gegangen zu sein‘. Langsam beruhigte ich mich wieder.
Meine Mutter, die mich kannte, hatte meine Unruhe auch bemerkt. Vorwurfsvoll sagte sie mir auf den Kopf zu: „Du hast doch sicher wieder etwas angestellt!?“, und bekümmert fügte sie noch hinzu: „Wann willst du bloß endlich vernünftig werden!?“
Sie erwartete von mir keine Antwort und ich hätte ihr auch keine geben wollen. Ich schnappte mir deshalb ein Buch und verzog mich ins Wohnzimmer, um weiteren Fragen und Vorwürfen aus dem Wege zu gehen. Innerlich dankte ich dem Schicksal, dass wir das Abenteuer so gut bewältigt hatten, aber vor allem, dass wir so glimpflich davongekommen waren.
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