SCHMERZENSGELD
Als ich von der Schule nach Hause kam, lag meine Mama, ihren rechten Fuß bis zum Knie dick verbunden, im Bett und weinte. Behutsam ging ich zu ihr und fragte ängstlich: „Mama, warum weinst du denn? Tut dir etwas weh? Bist du krank? Musst du ins Krankenhaus?“
„Ach Kind“, sagte sie traurig und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, „ich hatte heute großes Pech. Ich war auf dem Wochenmarkt und da ist mir so ein dreirädriges Lieferauto über das Bein gefahren. Der Knöchel ist gebrochen und an der Wade habe ich eine schmerzhafte Wunde. Ich kann gar nicht richtig auftreten und werde wohl einige Zeit im Bett liegen müssen. Aber ins Krankenhaus muss ich nicht!“, beruhigte sie mich und versuchte dabei, etwas zu lächeln.
Mein Vater saß im Korbsessel und machte ein griesgrämiges Gesicht. Man sah ihm an, das er sich weniger um seine Frau sorgte, als um die Frage, wie es denn nun ohne sie weitergehen wird, denn mit der Hauswirtschaft hatte er wenig im Sinn.
„Grete, ich habe gehört, dich hat ein Auto angefahren? Wie geht es dir? Kann ich dir irgendwie helfen?“ Herta Ortelbach, die Freundin meiner Mama, die im großen Haus wohnte, war ganz außer Atem in die Stube gestürzt gekommen und hatte vor Aufregung die Tür offengelassen. „Oh je, du liegst ja im Bett! Ist wohl recht schlimm? Wirst du denn zurechtkommen? Wenn du Unterstützung brauchst, musst du es nur sagen!“ Plötzlich schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Ich rede und rede! Ihr habt sicher heute nichts zum Mittag gehabt!? Bei mir gab es in Sahne eingelegten Hering. Da ist noch etwas übrig. Den werde ich gleich holen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten sauste sie los und kam kurz darauf mit einer Schüssel eingelegter Heringe wieder.
„Hier Otto“, überreichte sie meinem Vater das Gefäß, „du brauchst nur noch ein paar Pellkartoffeln dazu zu kochen, dann habt ihr wenigstens heute erst einmal etwas zu Mittag, morgen koche ich dann gleich für euch mit.“
Anstatt für die Hilfe dankbar zu sein, schob mein Vater die Schüssel abrupt beiseite, verkündete missgelaunt: „So etwas kann ich nicht!!“ und machte sich aus dem Staube.
Die Freundin meiner Mutter war darüber ganz verdattert. Meine Mama, die sich wegen des schlechten Benehmens meines Vaters schämte, weinte in ihrer Hilflosigkeit still vor sich hin. Auch mich berührte die ganze Sache sehr. Zaghaft ging ich zu meiner Mama, streichelte sie liebevoll und versuchte sie zu trösten: „Lass man, Mama, wenn ich groß bin, dann koche ich für dich!“
Die kommende Zeit war für meine Mutter nicht einfach, aber mit Hilfe ihrer Freundin hat sie sie recht gut gepackt. Der Autofahrer, der den Unfall schuldhaft verursacht hatte, wurde dazu verurteilt, meiner Mutter ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen. Völlig zu Recht verwendete sie dieses Geld, ein für unsere Verhältnisse recht ansehnliches Sümmchen von 200 Mark, zum Ärger meines Vaters, nur für sich. Sie war damit in der Lage, sich endlich einen schon lange gehegten Wunsch zu erfüllen; sie kaufte sich eine Singer-Nähmaschine. Das war eine Anschaffung, die ihr bis ins hohe Alter viel Freude bereitete, denn sie nähte gerne und mit großem Geschick. Obwohl sie das Schneiderhandwerk nicht gelernt hatte, hätte sie es mit jeder Schneiderin aufnehmen können. Von da an war unsere Küche nicht nur Schuhmacher-, sondern auch Schneiderwerkstatt. So brachte der Unfall für meine Mama nicht nur Ungemach, sondern hatte auch sein Gutes, er verhalf ihr zu einer materiellen Grundlage, die sie besonders in der Nachkriegszeit wirkungsvoll nutzte, um einigermaßen erfolgreich über die Runden zu kommen.
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