BIENENSTICH

Zu meiner Zeit herrschte in der Schule auch in den Pausen Zucht und Ordnung, wie man so schön sagt. Unter Aufsicht eines Lehrers gingen alle Schüler täglich in der großen Pause auf dem Schulhof in Gruppen zu drei oder vier im Kreis herum. Bei unserer Schulhofpausenwanderung wurde eifrig geschwatzt; es gab auch mal kleine Rempeleien und Neckereien und andere Versuche, die Ordnung zu durchbrechen. Der aufsichtführende Lehrer sorgte aber dafür, dass alles im Rahmen blieb und gab acht, dass wir nicht vergaßen, auch unser Frühstücksbrot zu essen.

Es war ein schöner warmer Maientag, als wir, wie immer, unsere Pausenrunden machten. Meine Mama hatte mir eine Marmeladenstulle mitgegeben, die ich mit Appetit ass. Ich war nicht ein bisschen neidisch auf die Kinder, deren Butterbrot dick mit Wurst belegt war. Mir war etwas Süßes lieber. So biss ich denn Happen für Happen von meiner Marmeladenschnitte ab, ohne groß hinzusehen, und verzehrte schmatzend meine süße Pausenmalzeit. Beim Erzählen mit meinem Freund Karl war mir nicht aufgefallen, dass auch eine Biene an der süßen Marmelade auf meiner Stulle Gefallen gefunden hatte und sich gerade an der Stelle niedergelassen hatte, an der ich wieder abbiss. So war plötzlich nicht nur Brot mit Marmelade in meinem Mund, sondern auch die vorwitzige Biene. Schnell versuchte ich, das ekelig krabbelnde und summende Etwas auszuspucken. Doch ein stechender Schmerz in der Zunge ließ keinen Zweifel aufkommen, die Biene war schneller gewesen als ich und hatte mir in die Zunge gestochen. Durch mein gequältes „Auuuuuuuu!!“ war mein Freund aufmerksam geworden und fragte mich: „Was ist denn, Werner?“
„Karl, mich hat gerade eine Biene in die Zunge gestochen“, gab ich aufgeregt zur Antwort.
„Komm, das musst du gleich dem Lehrer sagen“, forderte mich Karl auf.
Ich brauchte keine langen Erklärungen abgeben, denn meine zusehends dicker werdende Zunge bewies dem Lehrer, hier tat Eile Not.
„Ist bei euch jemand zu Hause“, fragte mich der Lehrer.
Ich schüttelte den Kopf, denn sprechen fiel mir schon schwer.
„Dann musst du selbst zum Arzt gehen, denn wenn nichts gemacht wird, kann die Zunge so anschwellen, dass du ersticken kannst. Weißt du, zu welchem Arzt du gehen musst?“
Ich nickte.
„Dann sause ab! Ich sage deinem Klassenlehrer Bescheid. Die Mappe kann ja dein Freund mitbringen. Schaffst du es alleine oder soll dich jemand begleiten?“
Ich schüttelte noch einmal den Kopf und rannte dann los, von der Angst getrieben, ersticken zu müssen. Die Zunge, die schon ansehnlich angeschwollen war, ließ ich aus dem Munde baumeln. Leute, denen ich auf dem Wege zum Arzt begegnete, schauten mir verwundert nach. Ich bot bestimmt einen kuriosen Anblick, wie ich so mit heraushängender Zunge daher rannte.
Von der Klosterschule bis zu unserem Hausarzt, der in der Kurmarkstrasse seine Praxis hatte, brauchte ich etwa zehn Minuten. Glücklicherweise hatte er Sprechstunde. Lallend erklärte ich ihm, was mir widerfahren war. Heimlich schmunzelnd besah sich Dr. Schmidt das Malheur, zog dann mit einer Pinzette den Stachel heraus, der noch in der Zunge steckte und strich mir beruhigend über den Arm. Um Komplikationen auszuschließen und einen schnellen Rückgang der Schwellung zu sichern, gab er mir noch eine Spritze. Dann ermahnte er mich, ja wiederzukommen, wenn keine Besserung eintreten sollte und schickte mich nach Hause.
Auf unserem Hof in der Grünstrasse lag an der Stallmauer ein alter Baumstamm. Er war ohne Rinde. Darauf setzte ich mich und ließ mich von der Sonne bescheinen. Wegen der Kühlung hatte ich dabei die Zunge aus dem Munde heraushängen lassen. Nach und nach wurden die Schmerzen geringer und die Schwellung ging zurück.
Als mein Freund Karl mir meine Schulmappe brachte, hatte ich alles gut überstanden. Als er mich da so quietschvergnügt in der Sonne sitzen sah, war er doch etwas neidisch auf mich. Obwohl der Bienenstich nicht sehr angenehm war, hatte er doch sein Gutes gehabt: Er hatte mir immerhin drei Stunden schulfrei eingebracht!
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