AUF DEM RUMMEL
Mir war richtig feierlich zumute, als mich meine Mutter sonntagsmäßig anzog und mir eröffnete: „Heute gehen wir zum Rummel!“
Aufgeregt saß ich mit meinen Eltern in der Straßenbahn, die damals noch fuhr, und konnte es kaum erwarten, endlich auf dem Rummel zu sein; immerhin war der Besuch des Jahrmarktes auf dem Lubstplatz ein erster bedeutender Höhepunkt in meinem Leben als Stadtkind. Schon lange, bevor wir die Endhaltestelle der Straßenbahn kurz vor der Lubstbrücke erreichten, waren die unverwechselbaren Geräusche des Jahrmarktes, die Leierkästen der Karussells, die sich überschlagenden Stimmen der Marktschreier und das Stimmengewirr der vielen Jahrmarktbesucher zu vernehmen. Endlich war es soweit; an der Hand meiner Eltern ging es hinein in den bunten Trubel des Rummels. Schon nach wenigen Schritten in Richtung Lubstplatz schallte uns laut der Ruf „Türkischer Honig! Türkischer Honig!“ entgegen, mit dem ein Händler seine zähklebrige Zuckerware anpries. Dabei schabte er mit einem halbmondförmigen Messer von den braunen, gelben und rosafarbenen Honigklumpen geschickt süße Späne, die er in einem Stück Pergamentpapier für fünf Pfennig zum Verkauf anbot.
Dann weckten einige Zirkuswagen unser Interesse, in denen man durch große Fenster, wie in einer überdimensionierten Puppenstube, die Lebenswelt von Liliputanern in Augenschein nehmen konnte. So wie hier, wurde man auch an anderen Buden zum Eintritt aufgefordert, um gegen entsprechendes Entgelt Zauberer, Jongleure, Seiltänzer, superstarke Männer, die Frau ohne Unterleib oder den Wolfsmenschen anzusehen. Dabei versuchte ein Budenbesitzer den anderen großschnäuzig und mit entsprechender Lautstärke auszustechen.
„Herrschaften! Aufgepasst!“ versuchte einer auf sich aufmerksam zu machen, „gleich kommt der spannende Moment, wo der Elefant sein Wasser lässt! Kinder, Frauen, Greise und Nichtschwimmer auf die Tribüne zurücktreten, bitte!“
„Kommen sie ran! Kommen sie ran! Hier werden sie genauso beschissen wie nebenan!“, versuchte ihm ein anderer die Kunden abzuwerben, „hier sehen sie Riesenschlangen, die messen vom Kopf bis zum Schwanz zehn Meter und vom Schwanz bis zum Kopf fünfzehn Meter! - - - Was, das glauben sie nicht? Ja, ist denn der Abstand zwischen Weihnachten und Neujahr nicht auch kürzer als der Abstand zwischen Neujahr und Weihnachten!?“
Ein Dritter schließlich bot marktschreierisch Schokolade an. „Leute! Hört mal her! Heute macht ihr den Reibach eures Lebens! Bei mir kauft ihr Schokolade zu sensationellen Preisen! Für eine Mark bekommt ihr bei mir nicht drei, nicht fünf nicht acht, nein, bei mir bekommt ihr heute zehn Tafeln für eine Mark!! Na, ist das ein Angebot! Und weil ich heute so gute Laune habe, gebe ich euch noch eine Tafel gratis dazu!!“
Viele ließen sich beschwatzen und kauften die preiswerte Schokolade. Mein Vater, zu meiner Freude, auch!
Dann ging es weiter, an Spiegelkabinett, Geisterbahn, Riesenrad, Kettenkarussell, Haut den Lukas, Losbude und Stand, wo man mit Ringen nach Weinflaschen werfen und gewinnen konnte, zum Bierzelt. Hier genehmigte sich mein Vater ein kühles Bier, meine Mutter bekam eine Berliner Weiße und ich eine grüne Waldmeisterbrause gegen den Durst. Von nebenan kam der Duft von gebrannten Mandeln herüber und Pfefferkuchenherzen in verschiedenen Größen und mit lustigen Zuckergussaufschriften hingen an bunten Bändern zum Verkauf. Ein alter Mann bot seine Luftballons an, die in einer vielfarbig leuchtenden Traube über ihm schwebten.
Während ich auf einem galoppierenden Pferd meine Runden auf einem Kinderkarussell drehen durfte, stellten meine Eltern an einer Schiessbude ihr Können unter Beweis und wurden mit drei bunten Papierblumen belohnt.
An der Luftschaukel nebenan herrschte großer Andrang. Junge Burschen mit ihren Freundinnen schwangen sich kraftvoll in die Höhe, so dass die Röcke unternehmungslustig im Fahrtwind flatterten. Mich beeindruckte aber besonders das schlanke Kerlchen, das in der Überschlagschaukel Umdrehung um Umdrehung machte, die vom Chor der Zuschauer bewundernd mitgezählt wurden.
Zum Abschluss unseres Jahrmarktbesuches gingen meine Eltern mit mir noch ins Lachkabinett. Zuerst musste man eine Treppe hochsteigen, deren Stufen sich wechselseitig hoben und senkten, so dass man, wenn man nicht aufpasste, immer auf der gleichen Stelle blieb.
Endlich oben angelangt, ging es über eine Hängebrücke mit schwankenden Planken in eine sich drehende Röhre, wo man zu tun hatte, das Gleichgewicht zu halten. Schließlich gelangte man über eine Rutschbahn auf einen Gitterrost, unter dem ein Ventilator einen starken Luftstrom nach oben blies, so dass den Frauen die Röcke hochgeweht wurden.
Wer diese Hindernisbahn glücklich überwunden hatte, konnte unten im Zelt stehen bleiben und sich voller Schadenfreude an den Verrenkungen der Nachfolgenden ergötzen.
Besondere Freude hatten natürlich die männlichen Besucher, wenn die Frauen, vom plötzlichen Luftstrom überrascht, mit ihren hochgewehten Kleidern kämpften und peinlich berührt versuchten, ihre Blöße zu verdecken.
Bevor wir uns wieder auf den Heimweg machten, spendierte mir mein Vater noch ein leckeres Vanilleeis.
Noch eine ganze Weile war die Geräuschkulisse des Jahrmarktes zu vernehmen, als uns die Straßenbahn wieder nach Hause brachte.
Ich war meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mir einen so schönen Tag bereitet hatten. Das konnte auch die Tatsache nicht mehr trüben, dass die preiswert gekauften Schokoladentafeln sich in Wirklichkeit als ganz hauchdünne Täfelchen entpuppten, denen zur Täuschung Wellpappestücke untergelegt waren.
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