MUTPROBE

Etwa hundert Meter von unserem Wohnhaus in Wallwitz entfernt, an der Bahnstrecke nach Crossen, lag die Försterei. Mit der Tochter des Försters war ich befreundet. Sie war gleichaltrig und ging mit mir in eine Klasse. Sie hatte langes, dunkelblondes Haar, das zu zwei dicken Zöpfen geflochten war. Wenn sie lachte, erschienen ein paar niedliche kleine Grübchen auf ihren Wangen. Sie war ein richtiger Lausbub, mit dem das Spielen Spaß machte. An ihr war, so sagte ihr Vater, ein Junge verloren gegangen. Richtig angefreundet hatten wir uns bei unseren Nachbarsleuten, der Familie Müller, wohin ich gerne spielen ging und sie oft zu Besuch kam. Interessant war es für mich immer, wenn ich sie in der Försterei besuchte. Ihr Vater, Förster Schmid, konnte spannende Geschichten von den Tieren des Waldes erzählen.

Forsthaus in Wallwitz (Foto von Martin Vogel) Aufgenommen
im August 2002. Aus Gubener Heimatbrief 2/2003, Seite 82.

Die Försterei grenzte unmittelbar an eine Kiefernschonung, die hinter einem Waldweg in Hochwald überging. Wir spielten in der Schonung gerne Räuber und Gendarm. Hinter den tief hängenden Kiefernzweigen konnten wir uns gut verstecken. So war es für den Gendarmen nicht einfach, den Räuber zu fangen. Deshalb hatten wir uns so eine Art Schnitzeljagd ausgedacht. Der Räuber musste seinen Weg mit Kiefernzapfen markieren, damit ihn der Gendarm besser fand. So tollten wir manchmal in der Schonung herum, dass uns regelrecht die Luft wegblieb. Dann setzten wir uns auf der kleinen Lichtung auf einen alten Baumstamm um auszuruhen und erzählten uns Geschichten, die wir selbst ausdachten. An einem Nachmittag saßen wir wieder einmal, vom Spiel erschöpft, auf dieser Lichtung. Von unserem Platz aus konnte man den Hochstand sehen, der auf der anderen Seite des Waldweges stand.
Bei Familie Müller fühlte ich mich wohl
Auf einmal hörten wir Jungenstimmen, die ein Marschlied sangen. Bald konnten wir auch den Trupp Hitlerjungen sehen, der den Waldweg ent-langmarschiert kam. Als der Trupp den Hochstand erreicht hatte, befahl der Anführer: „Abteilung halt, links um, rührt euch!“ Der Scharführer stellte sich breitbeinig vor die Front und eröffnete der Mannschaft: „Deutsche Jungen, so hat der Führer gesagt, sind schnell wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Ich will sehen, ob ihr diesen Anforderungen gerecht werdet. Deshalb machen wir jetzt eine Mutprobe. Wir laufen bis zum Waldrand und wieder zurück, dann klettern wir auf den Hochstand und springen von oben herunter. Alles klar!!! Feiglinge, die Angst haben, links raus.“
Beim Ballspiel in Müllers Garten
Keiner rührte sich, obwohl man manchem Jungen ansah, dass ihm bange war. Keiner wollte als Feigling gelten. So blieben alle, wenn auch mit gemischten Gefühlen, in der Reihe stehen.

„Dann, rechts um, Reihe rechts im Laufschritt, marsch, marsch!“, befahl der Anführer.

Mit Mädchen spielte ich gerne
Vom Laufen schon ganz außer Atem, erklommen die Jungen, zurückgekommen, zügig den Hochstand, und mit dem Mut der Verzweiflung sprang einer nach dem anderen von der vier Meter hohen Kanzel hinunter auf den Waldboden. Zum Glück ist keinem dabei etwas passiert.
Als der Trupp wieder abmarschiert war, bin ich auch einmal auf den Hochstand geklettert, um zu sehen, welcher Mut erforderlich ist, von dort oben herunter zu springen.
War mir allein schon vom Zusehen ganz schwummerig gewesen, so wurde mir auf dem Hochstand beim hinunter sehen regelrecht schwindelig. Ich hatte nur den einen Gedanken: ‚Schnell wieder runter!‘. Beim hinab klettern zitterten mir die Knie.
Schaudernd dachte ich daran, dass ich mit zehn Jahren auch Pimpf werden musste und vielleicht auch solche Mutproben zu bestehen hatte.
Zum Räuber und Gendarm spielen war mir an diesem Tag gründlich die Lust vergangen!
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