DAS KARUSSELL

Als vor der Gastwirtschaft Rademacher ein Karussell aufgebaut wurde, versammelte sich nach und nach die gesamte Kinderschar des Dorfes. Wir standen herum, verfolgten interessiert, was da geschah, staunten und hielten Maulaffen feil.

Es war ein Kinderkarussell, welches da errichtet wurde, mit aus Holz geschnitzten und bunt lackierten Pferden. Braune, Schimmel und Rappen mit langen Mähnen, geblähten Nüstern, rollenden Augen und stampfenden Hufen regten unsere kindliche Phantasie an und machten uns Lust, darauf zu reiten.
Dieses Karussell hatte noch keinen Elektromotor als Antrieb, es wurde von Menschenhand gedreht. Deshalb hielt der Besitzer schon während des Aufbaus nach einigen kräftigen Burschen aus dem Ort Ausschau, die für ein paar Pfennige bereit waren, das Vehikel zu drehen.
Sonntag war es dann soweit. Am Nachmittag kündete die Leierkastenmusik unüberhörbar, es kann Karussell gefahren werden. Ich konnte es kaum erwarten, dass meine Eltern mit mir zum Karussell gingen. Vor der Gastwirtschaft, die ja auch von dem Karussell profitierte, war schon stimmungsvolles Treiben. Von starken Armen getrieben, drehten die Holzpferdchen, auf deren Rücken wir Kinder unseren Spaß hatten, ihre Runden.
Aber, wie sonderbar, auch Erwachsene standen auf der sich drehenden Scheibe und spielten mit großer Begeisterung das Ringelspiel. In einiger Entfernung vom Karussell hatte der Inhaber einen Pfahl aufgestellt, an dem in einer Halterung ein silberner Ring steckte. Die erwachsenen Fahrgäste, sie mussten natürlich auch einen Fahrpreis entrichten, um mitspielen zu können, hielten sich mit der einen Hand an einer Eisenstange am Rande des Karussells fest und versuchten, jedes Mal, wenn sie am Pfahl vorbeikamen, mit einem Finger der anderen Hand den Ring aus der Halterung zu ziehen. Gelang ihnen das, hatten sie einen Preis gewonnen. Natürlich konnte man die Ringe auch sammeln, um den Wert seines Preises zu erhöhen. Hin und wieder kam am Pfahl auch ein goldener Ring zum Vorschein. Den mit dem Finger zu stechen, war um vieles schwieriger. Aber wer es schaffte, bekam einen Hauptpreis.
Mit dem Karussell war ein wenig Abwechselung in das Einerlei des Dorflebens gekommen. Alles was sich bewegen konnte, war auf den Beinen. Jeder vergnügte sich auf seine Weise, die Erwachsenen in der Gastwirtschaft, wir Kinder bei wildem Ritt auf den Karussellpferdchen und die Jugendlichen beim Ringelspiel oder bei anderen ‚Spielchen‘.
Es begann zu Dämmern, als auf einmal in einiger Entfernung auf der Dorfstrasse Geschrei zu hören war. Plötzlich tauchte aus dem Halbdunkel eine Gestalt auf. Als sie in den Lichtschein des Karussells kam, konnte man einen jungen Mann erkennen; seine Sachen waren verschmutzt und zerrissen, aus einer Wunde am Kopf lief Blut über Gesicht und Kleidung, nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen. Ein paar Steine kamen geflogen. Einer traf ihn im Rücken. Taumelnd, die letzte Kraft aufbietend, verschwand er in einem gegenüberliegenden Gehöft. Die Hoftür knallte zu, ein Riegel quietschte und ein Hund fing hinter dem Hoftor an zu kläffen.
Kurz darauf kamen drei SA-Leute angehetzt. Sie hatten Knüppel und Steine in der Hand. Wütend darüber, dass ihnen ihr Opfer entkommen war, traten sie ärgerlich mit den Füssen gegen die verschlossene Hoftür und brüllten hasserfüllt: „Warte nur, du rote Kommunistensau, wir kriegen dich schon noch!“ Dann verschwanden auch sie wieder in der Dunkelheit.
Wie ein Spuk hatte sich die Begebenheit abgespielt und doch spürte man ringsumher die Betroffenheit. Die meisten taten aber so, als hätten sie nichts bemerkt. Auf kindliche Fragen, wie: „Warum blutet der denn?“ oder „Warum wollten die den denn verhauen?“ gab es keine Antworten. Viele hatten es auf einmal eilig, sich auf den Heimweg zu machen. Keiner wollte mit dem Geschehen etwas zu tun haben. Wer mischt sich schon gerne ein, wenn Nazi-Schläger Kommunisten verprügeln!!??
Natürlich gehörten damals auf den Dörfern beim Tanz und bei anderen festlichen Anlässen Schlägereien zum guten Ton. Warum sollte es diesmal anders sein? Ja, wenn da nicht die Kerle mit den braunen Uniformen und dieses schreckliche Wort ‚rote Kommunistensau‘ gewesen wären.
Dörfliche ‚Idylle‘ kurz nach der Machtergreifung der Nazis.
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