RODELPARTIE

Es hatte die ganze Nacht geschneit und noch immer fielen große weiße Flocken aus den tief hängenden Wolken.

Neugierig schaute ich aus unserem Küchenfenster und staunte; soweit ich sehen konnte war alles mit einer dicken Schneeschicht zugedeckt. Die Äste an den Bäumen im Garten besaßen wattige weiße Wülste. Die Scheune gegenüber schien sich ängstlich unter der sie bedeckenden Last zu ducken. Ein ausgedienter alter Ackerwagen in der Hofecke hatte sich zu einer geheimnisvollen Schneeskulptur gewandelt und die Latten des Zaunes, der den Hof begrenzte, waren mit lustigen Mützchen bekleidet. Quer über den Hof zog sich eine schmutzig-graue Furche durch das schneeige Weiß; unser Hauswirt hatte bereits einen Pfad frei geschaufelt, damit man ohne Schwierigkeiten zum Klo kam, welches sich hinter der Scheune befand.

Das Schloss in Wallwitz im Schnee

Auf dem angrenzenden Feldweg sah ich Kinder mit ihren Schlitten. Ihr Ziel war Schusters Berg, eine natürliche Rodelbahn am Waldrand in der Nähe des Schlosses, auf der, wie ich sehen, aber vor allem hören konnte, schon reger Betrieb herrschte.
Sehnsüchtig schaute ich den Kindern hinterher.
Meine Mama schien mir meinen Wunsch von den Augen abgelesen zu haben, denn nach dem Frühstück zog sie mich warm an, holte mir meinen Schlitten aus dem Schuppen und
entließ mich zum Rodeln mit der Ermahnung, ja recht vorsichtig zu sein und keine zu steilen Hänge hinunter zu Rodeln.
Innerlich jubelnd stampfte ich, meinen Schlitten durch den tiefen nassen Schnee hinter mir herziehend, zum Rodelberg. Mein Schlitten unterschied sich von den Schlitten anderer Kinder ganz erheblich. Es war ein solider Eigenbau ‚Marke Großvater‘, etwas zu massig und unförmig, wodurch er mehr einem ländlichen Ackerschlitten als einem Rodelschlitten für Kinder ähnelte.
Als ich am Berg ankam, war ich ganz schön außer Puste. Ich setzte mich erst einmal auf mein Schlittenungetüm, schaute dem lebhaften Treiben auf der Rodelbahn zu und leckte dabei ein wenig von dem frischen kühlen Schnee. Die Kinder bugsierten ihre Schlitten in recht unterschiedlicher Art und Weise auf den Berg. Die meisten zogen ihn an der Schnur hinter sich her. Einige hatten ihn aber auch wie einen Rucksack geschultert und kraxelten so nach oben. Andere wieder schoben ihn wie eine Schubkarre vor sich her den Berg hinauf.
Oben angelangt ging es dann mit Gejuche und Gekreische die von den vielen Schlitten schon ordentlich festgefahrene glatte Rodelbahn wieder hinunter, wobei sich das Gebimmel der kleinen Glöckchen an manchen Schlitten mit den hell jubelnden Kinderstimmen zu einer lustigen Schallkulisse vermischte.
Es war weniger die Mahnung der Mutter, als vielmehr die eigene Angst, die mich davon abhielt, mit meinem Schlitten bis zur obersten Abfahrtstelle der Rodelbahn zu steigen. Aber meine Versuche, schon auf halber Höhe auf die Rodelbahn zu gelangen, scheiterten immer wieder kläglich, weil Schlitten um Schlitten an mir vorbei sauste und die Achtung gebietenden Rufe: „Bahn frei!!“ mir jede Möglichkeit dazu nahmen.
Endlich! Einen längeren Abstand zwischen zwei abfahrenden Schlitten nutzend, schob ich schnell meinen Schlitten auf die Bahn. Aber, da sich unter den klobigen Kufen meines Schlittens keine Eisenbänder befanden, sondern das pure Holz nur dadurch etwas gleitfähig gemacht worden war, dass man es mit einer Wachskerze eingerieben hatte, kam ich nicht schnell genug in Schwung und musste, der unüberhörbar zwingenden Aufforderung „Bahn frei!!“ folgend, meinen Schlitten wieder von der Rodelpiste zerren.
Als es mir, nach mehreren vergeblichen Versuchen, endlich doch gelungen war, mit meinem Schlitten ein Stück den Berg hinunter zu rutschen, hatte ich zu tun, ihn in der Spur zu halten. Die linke Kufe hatte eine kleine Abweichung von der Geraden nach innen, so dass der Schlitten den Drang besaß, nach rechts auszuscheren. Ich musste also stets mit dem linken Fuß gegen lenken, um ihn in der Spur zu halten.
Die anderen Kinder protestierten lautstark gegen mein Gescharre, weil es die eingefahrene Rodelbahn kaputt machte.
Mir war der Spaß am Schlittenfahren gründlich verdorben. Den Tränen nahe, schob ich meinen Schlitten wieder an die Seite und schaute bekümmert den anderen zu.
Das schien meine Freunde zu rühren, und sie erlaubten mir, auf ihren Schlitten mitzufahren; jedoch um den Preis, dass ich ihre Schlitten danach wieder auf den Berg hinauf ziehen musste, was mir aber, ehrlich gesagt, überhaupt nichts ausmachte.
Ich weiß nicht mehr genau, wieso es passierte. Es kann sein, dass ich beim Vorbeigehen enttäuscht und wütend mit dem Fuß gegen meinen Schlitten getreten habe. Jedenfalls setzte er sich plötzlich in Bewegung und sauste mit einem Schwung, dem ich ihm nie zugetraut hätte, seitlich den steilen Abhang hinunter.
Da wurde als ein weiterer Mangel meines Gefährts sichtbar, dass es schon recht morsch und brüchig war. Denn, als seine ziellose, unfreiwillige Abfahrt durch den Stamm einer knorrigen Kiefer ruckartig gebremst wurde, löste sich mein Schlitten in seine Bestandteile auf. Was übrig blieb, war nur noch als Brennholz zu gebrauchen.
Ich war zwar erschrocken über das Missgeschick, empfand aber keinerlei Gewissensbisse.
Es war schon spät, als ich durchgefroren aber glücklich, und ohne meinen Schlitten nach Hause kam. Ziemlich unbekümmert ließ ich das Donnerwetter wegen des zerbrochenen Schlittens über mich ergehen. Ich weinte diesem klobigen, schweren und unhandlichen Gerät keine Träne nach.
Seitdem war ich gezwungen, immer mit den Schlitten meiner Freunde mitzufahren, denn einen eigenen habe ich nie wieder bekommen.
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