LOTTI

Wer nach dem Lesen der Überschrift annimmt, er erfährt hier etwas über eine Liebesgeschichte, den muss ich arg enttäuschen.
Wen ich hier beschreibe, das ist eine etwas überspannte junge Frau, eine Freundein meiner Mutter.
Bei einer Anprobe, sie ließ sich bei meiner Mutter ein Kleid nähen, sah ich sie das erste Mal.
Völlig ungeniert posierte sie vor mir 18-jährigen Jüngling, nur mit Schlüpfer und Büstenhalter bekleidet. Man merkte ihr an, das sie es bewusst darauf angelegt hatte, mich etwas in Verlegenheit zu bringen.
Meine Mutter merkte ihr Vorhaben.
„Du musst dich vor meinem Sohn nicht ausziehen. Wenn es dir peinlich ist, können wir in die Wohnstube gehen!“, versuchte sie, der, ihr sichtlich peinlichen, Situation die Spitze zu nehmen.
„Lass man, Grete! Ich bin bestimmt nicht die Erste, die er so sieht!“, war ihre Reaktion. (So ungehemmt, wie sie sich hier gab, so war sie eben, wie ich im Verlaufe unserer Bekanntschaft feststellen konnte, in jeder Lebenslage)
Sie hieß Lotti, war um die Dreißig, hatte eine 3-jährige Tochter und führte im kleinbürgerlichen Sinne ein ,Lotterleben‘.
In Wirklichkeit nutzte sie nur alle sich bietenden Gelegenheiten, um in den schweren Nachkriegszeiten mit ihrer kleinen Tochter einigermaßen über die Runden zu kommen.
Wenn es ihr irgendwie Nutzen brachte, hatte sie keine Skrupel, dafür auch ,unmoralische‘ Dinge zu tun.
So erzählte sie meiner Mutter völlig hemmungslos, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass ich alles mit anhören konnte, von ihrem Verhältnis zu einem Zuckergroßhändler.
„Weißt du, Grete, dieser Zuckergroßhändler ist nicht jung und auch nicht schön, er ist vielmehr klein, hässlich und sogar buckelig, aber er ist reich, und das mache ich mir zunutze!“, schilderte sie ungeniert ihre Beziehung. „Zugegeben, es ist ein alter geiler Sack. Aber, wenn ich mit ihm schlafe, ist er nicht knauserig. Wenn ich mich hin und wider von ihm über einen Zuckersack legen lasse, bekomme ich dafür Lebensmittel, chice Sachen und Schmuck“, rechtfertigte sie ihr Tun
„Ist es nicht ekelhaft, sich mit so einem geilen Lüstling abzugeben?“, fragte meine Mutter angewidert.
„Ich muss mich schon überwinden“, gestand sie ehrlich, „aber ich mache den alten Lustmolch vorher so geil, dass es bei ihm nicht lange dauert und ich die ganze Sache schnell hinter mir habe.“
Eines Tages kam sie und eröffnete uns: „Meine Kartoffeln gehen zur Neige.“ Und halb fragend stellte sie fest: „Ihr braucht doch sicher auch welche!!??“
Auf die verständnislosen Blicke meiner Mutter reagierend, erklärte sie dann: „Ich habe in Erfahrung gebracht, dass viele Gubener zu den Kartoffelmiete des Gutes Steinsdorf fahren. Die werden von Soldaten der Sowjetarmee bewacht. Uhren, Schmuck usw. kann man dort gegen Kartoffeln eintauschen. Das geht aber nur, wenn eine ganz bestimmte Wachmannschaft Dienst hat. Am Donnerstag wäre wieder eine solche Gelegenheit. Für mich allein ist das aber zu schwer. Werner“, sprach sie mich nun direkt an, „möchtest du nicht mal mitkommen und mir helfen?“
Wir einigten uns darauf, am kommenden Donnerstag, früh um 4,oo Uhr, zu den Mieten zu fahren, um Kartoffeln zu organisieren. Ich borgte mir dafür aus unserem Haus einen kleinen Handwagen und meine Mutter gab mir ihre goldene Armbanduhr als Tauschobjekt mit.
Es war noch stockdunkel, als wir uns den Mieten näherten. Wir waren nicht allein. Von allen Seiten kamen, akustisch vom dumpfen Gepolter ihrer Wagen und Karren begleitet, schemenhafte Gestalten aus der Dunkelheit, und tapsten, wie wir, in Richtung Mieten.
Endlich angekommen, stockte der geisterhafte Zug. Einzeln rollten die unterschiedlichen Transportgefährte zu den Kartoffelbergen, und zogen – nach mehr oder weniger langen Verhandlungen - in der Regel vollgepackt auf der anderen Seite von dannen.
Endlich waren auch wir an der Reihe.
Ich wollte Lotti die Uhr meiner Mutter für das Tauschgeschäft in die Hand drücken. Doch sie flüsterte mir zu: „Lass man stecken! Warte hier ein kleines Momentchen, ich bin gleich wieder da“.
Sie verhandelte kurz mit dem Wachsoldaten und verschwand dann mit ihm für ein Weilchen hinter der Miete.
„So, das wäre erledigt“, brummelte sie vor sich hin, als sie zurück kam, wobei sie sich noch ihre Bluse zuknöpfte und den Rock glatt strich, „komm, wir können uns jetzt unsere wohlverdienten Kartoffeln einsacken.“
Wie die anderen vor uns verschwanden wir mit voll beladenem Wagen wie Schemen in den Schleiern des aufsteigenden Morgennebels und zogen zufrieden nach Guben zurück.
So wie in diesem Falle hatte Lotti auch in anderer Hinsicht keine Skrupel und bewahrte sich stets den Sinn für das Nützliche.
Eines Tages brachte sie meiner Mutter als Arbeitslohn für eine von ihr genähte Bluse ein ansehnliches Stück Räucherspeck.
„Wo hast du denn den wieder aufgetrieben?“, fragte meine Mutter neugierig.
„Ach weißt du, ich habe auf dem Bahnhof ein paar Männer kennen gelernt, die beim Zoll arbeiten“, erzählte sie ohne Umschweife, „und wenn ich denen etwas entgegen komme, (dabei machte sie eine unzweideutige Bewegung mit ihrem Unterkörper), bekomme ich dafür Zigaretten, Speck und andere nützliche Sachen.“
Als meine Mutter etwas skeptisch auf den Speck schaute, beruhigte Lotti sie: „Grete, das ist wirklich eine ganz reelle Angelegenheit. Die Zollbeamten kontrollieren die Züge der Brigaden, die Transporte in die Sowjetunion durchführen, bei ihrer Rückkehr nach Schmuggelware. Das sind vor allem Alkohol, Zigaretten und Speck. Wenn sie dabei, zum Beispiel unter der Kohle im Tender, oder in den Wassertanks der Lokomotive fündig werden, erhalten sie einen Teil davon zur eigenen Nutzung, als materiellen Anreiz sozusagen, um gründlicher zu kontrollieren.“
Als meine Mutter geschieden war, war es Lotti, die sie überredete, doch mal mit ihr auf den Bahnhof mitzugehen.
Das war für meine Mutter in zweierlei Hinsicht ein Glücksfall: Zum einen lernte sie dadurch den Zollbeamten Albert Schlumm kennen, den sie später heiratete.
Zum anderen überstanden wir dank der zusätzlichen Speckrationen von Albert die schweren Zeiten recht gut.
Sie werden mir zustimmen, die Erlebnisse mit Lotti waren für meine Entwicklung nicht gerade prägend aber dafür wenigstens unvergesslich!
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