BOXERZEIT

Das Feldschlösschen war in den ersten Nachkriegsjahren Zentrum vieler kultureller Aktivitäten. Der erste Auftritt des G T O (Gubener Tanzorchester) fand im Feldschlösschen statt. Veranstaltungen kabarettistischer Art mit Zauberern, Clownen und Artisten sorgten für Kurzweil. Als besondere Attraktion stellte sich ein neu gegründeter Box-Klub dem Gubener Publikum vor.

Boxfreund Kerber

Wo etwas los war, fand man auch mich. Dabei nahm ich Eindrücke mit, die ich zu gegebener Zeit exzellent wiedergeben konnte, wodurch ich für Stimmung sorgte. Auch bei der ersten Veranstaltung des neuen Box-Klubs im Feldschlösschen war ich dabei. Er war von einem Gubener Tischler und Boxfanatiker, Herrn Kerber, ins Leben gerufen worden, der auch den nagelneuen Boxring gebaut hatte.
Ich bekam Lust, auch Boxer zu werden. Nachdem ich mich über die Bedingungen erkundigt hatte, stellte ich mich beim Vorsitzenden vor und wurde als Mitglied auf-genommen. Die Sportbekleidung wurde uns vom Klub zur Verfügung gestellt.
Zweimal in der Woche war Training. Jeden Dienstag trafen wir uns auf dem Reipo-Sportplatz zum Konditionstraining, der uns viel Energie und auch Mut abforderte. Zum Warmmachen liefen wir erst einmal 15 bis 20 Runden um das Stadion, das sind immerhin sechs- bis achttausend Meter. Ich wundere mich heute noch, dass mir das damals keine große Mühe bereitete. Anschließend wurde Kampfball gespielt. Dabei galt die Regel: Erst der Mann, dann der Ball! Obwohl es nie ohne ein paar blauen Flecken und einem kräftigen Muskelkater abging, bereitete mir das Ganze großen Spaß.
Die Donnerstage waren dem direkten Box-Training gewidmet. Es fand in der Turnhalle der Pestalozzi-Schule statt. Alle Disziplinen wie Seilspringen, Putchingball, Sandsack und Sparring, aber auch freundschaftliche Boxkämpfe zwischen den Klubmitgliedern, wurden praktiziert. Natürlich gehörte eine blutende Nase oder ein blaues Auge schon mal dazu. Einmal habe ich dabei einen Schlag auf meine Kinnspitze bekommen. Ich weiß also aus praktischem Erleben, wie es ist, wenn man auf die Bretter geht, völlig klar im Kopf, aber nicht in der Lage, auch nur ein Glied zu rühren.
Beim Training schwitzten wir so, dass sich um uns herum regelrecht kleine Pfützen bildeten und die Turnhosen am Ende zum Auswringen waren.
Da die Ernährungslage damals sehr schlecht war, hätten wir eine solche Kräfteverausgabung nicht lange durchgestanden; deshalb richtete Herr Kerber einmal in der Woche nach der Trainingsstunde ein gemeinsames Abendbrot aus.
Es war unübersehbar, dass unser Klubvorsitzender ein besonderes Auge auf mich gerichtet hatte. Mehrmals hatte er schon mein Talent gelobt. Da ich aber nicht besser war, als andere auch, konnte diese Bevorteilung nach meiner Meinung nur daher rühren, dass wir beide Tischler waren, woraus sich eine besondere Sympathie ergab. Deshalb machte ich mir nichts vor und beurteilte meine Chancen als Boxer sehr real. Welche Aussichten konnte ich mit meinen 19 Jahren und meinem Gewicht von 77 Kilo schon haben, wo ich doch dadurch gleich im Halbschwergewicht antreten musste. Aber unabhängig davon trainierte ich fleißig, förderte meine Kraft und Kondition und entwickelte eine akzeptable Technik.
Eines Tages eröffnete mir der Klubvorsitzend: „Werner, nach meiner Meinung bist du jetzt fit genug, um bei der nächsten Boxveranstaltung in einer Vorrunde in einem Freundschaftskampf mit einem Klubkameraden anzutreten.“ Mein Gegner sollte Helmut Schultke sein, der von Beruf Fleischer war.
Es ist klar, dass ich nach dieser Mitteilung mein Training intensivierte, denn ich wollte keine schlechte Figur abgeben.
Endlich, das Warten hatte mich schon ganz mürbe gemacht, war das Wochenende heran, an dem mein erster öffentlicher Kampf stattfinden sollte. Der Boxring für diese Veranstaltung war im großen Plenarsaal der neuen Stadtverwaltung in der Uferstraße errichtet worden. Der Boxvergleich mit dem anderen Klub sollte am Sonnabend stattfinden.
Die letzte Nacht vom Freitag zum Sonnabend hatte ich schlecht geschlafen. Ehrgeizig wie ich war, hatte ich den Kampf im Traum in allen Phasen durchgekämpft, mir alle Eventualitäten vor Augen geführt und noch einmal meine Stärken und Schwächen mit denen meines Gegners verglichen. Innerlich noch aufgewühlt begab ich mich zum Kampfplatz. In der Garderobe wurden wir beide individuell noch einmal auf unser Match vorbereitet. Dann, Sportkleidung an, Hände bandagiert und Handschuhe über, Mundschutz hinein und noch einmal der Hinweis: ,Ihr seid beide vom selben Klub und macht einen Freundschaftskampf, daran solltet ihr immer denken!‘
Nun kam der Augenblick, wo es kein zurück mehr gab. Ich wusste, dass meine Freundin Eva und meine Kumpel Manfred, Ernst und Wolfgang erwartungsvoll zwischen den Zuschauern saßen, und vor ihnen wollte ich ein gutes Bild abgeben. Auf dem Weg zum Ring munterten mich meine Freunde auf und drückten mir die Daumen.
Dann erfolgte das, was die Regeln vorsahen: Prüfung von Gesundheit und Ordnungsmäßigkeit der Handschuhe durch den Ringrichter und die Ermahnung, fair zu sein.
Der Gong zur ersten Runde ertönte!
Alles um einem herum versinkt im Nebel. Man hört und sieht nichts mehr, außer den Gegner und den Ringrichter. Im Kopf dreht sich nur der eine Gedanke: ,Ich will siegen! Ich will siegen!‘
Obwohl wir beide die Mahnung des Vorsitzenden im Ohr hatten: ,Es ist nur ein Freundschaftskampf‘, bearbeiteten wir uns beide mit den Fäusten, als ginge es um Leben oder Tod. Mit immer größerer Verbissenheit wurden die Schläge ausgeteilt und immer härtere Treffer gelandet. Unsere Anhänger im Publikum feuerten uns an, doch wir hörten nichts. Um uns herum war alles wie im Dunst versunken. Für uns zählte nur eins, den Gegner zu schlagen. Deshalb hörte ich auch die liebevoll-ironischen Rufe meiner Freunde nicht, die vom Publikum mit lachen und klatschen quittiert wurden: ,Lumpi, ein Pfeifchen Tabak?‘ oder ,Tangotänzer!‘.
Nur, wer selbst einmal im Ring gestanden hat, weiß, wie lang drei mal drei Minuten werden können. Ich hielt mich tapfer, obwohl mir mein Klubgegner gewichts- und kräftemäßig überlegen war. Meine Brust und meine Oberarme bekamen von den Schlägen meines Gegners blutunterlaufene Stellen, die wie Knutschflecke aussahen. Die Luft wurde mir knapp, weil beide Nasenlöcher zu waren. Mein rechtes Auge schwoll immer mehr an. Die Arme waren schwer wie Blei und es kostete mir große Anstrengungen, sie nur hoch zu bekommen. So war ich ehrlich dankbar, als der Gong die dritte Runde und damit den Kampf beendete.
Wird es zum Sieg gereicht haben?
Als der Ringrichter den Arm von Helmut hochriss und damit dessen Sieg anzeigte, war es für mich zur unumstößliche Tatsache geworden: Ich hatte den Kampf nach Punkten verloren. Was mich ein klein wenig tröstete, war die Tatsache, dass ich noch auf meinen, wenn auch wackligen Füßen stand. Ich hatte zwar eine Niederlage einstecken müssen, doch KO war ich nicht gegangen. Langsam löste sich bei mir die Spannung. Als ich den Ring verließ, stellte ich mit innerer Genugtuung fest, dass ich die Sympathie des Publikums und meiner Freunde nicht verloren hatte. Dennoch stand bei mir unumstößlich fest: Das war mein erster, aber auch mein letzter Boxkampf. Mir war klar geworden, Boxen ist doch nicht das richtige für mich. Deshalb trat ich aus dem Klub wieder aus.
Eine nicht unwichtige Episode meines Lebens war beendet. Doch was ich an Erfahrungen und auch an Kondition während meiner Boxerzeit gewonnen hatte, konnte mir keiner nehmen.
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