BERLINFAHRER

Nach 1945 hatte sich aus der besonderen Situation der Nachkriegszeit eine neue, etwas außergewöhnliche, Gilde herausgebildet: „Die Berlinfahrer“.

Ein Trupp junger Leute fuhr regelmäßig täglich in der Frühe, so gegen 3.00 Uhr morgens, ausgerüstet mit Rucksäcken oder anderen großen Behältnissen mit dem Zug von Guben nach West-Berlin und holten von den dortigen Verlagen für die örtlichen Zeitungshändler westliche überregionale Tageszeitungen, aber auch periodisch erscheinende Zeitschriften. Eine dieser Zeitschriften war zum Beispiel „Natur und Technik“ (siehe nebenstehende Abbildung), die auch ich regelmäßig kaufte, und es sehr be-dauerte, als sie nicht mehr greifbar war, weil wegen der Währungsreform im Westen Presseerzeugnisse von dort nicht mehr in die sowjetisch besetzte Zone gelangten.
Die Tätigkeit der Ber-linfahrer allein war sicher nicht sehr einträglich. Was diese Fahrten erst richtig lukrativ machte, war die Möglichkeit, Waren unkon-trolliert nach Berlin zu schmuggeln und dort auf dem Schwarzmarkt vor-teilhaft zu verkaufen und umgekehrt. Es brauchte gute Beziehungen, um hier mitmachen zu können. Wie sich zeigte, war diese ,Inter-essengemeinschaft‘ beinahe maffiamässig organisiert.
Augenfällig in der Öffentlichkeit war das großspurige Auftreten der Berlinfahrer. Sie waren überwiegend westlich gekleidet, trugen protzigen Schmuck, rauchten ausschließlich Westzigaretten und warfen angeberisch nur so mit ihrem Geld umher. Eine anekdotenhafte Geschichte, die damals die Runde machte, war dafür typisch: Ein Berlinfahrer schaute aus dem Zugfenster. Der Fahrtwind riss ihm seinen Hut vom Kopfe. Er wandte sich zurück ins Abteil und fragte die Mitreisenden: „Hat jemand einen Hut zu verkaufen, ich bezahle dafür 100 Mark!?“ Ein Fahrgast war bereit und übergab dem Berlinfahrer für 100 Mark seinen Hut. Der probierte ihn auf und stellte fest; er war ihm zu klein. Daraufhin warf er ihn ohne Zögern aus dem Abteilfenster und fragte danach die Fahrgäste erneut unverfroren: „Kann mir jemand für 100 Mark einen Hut verkaufen, der mir wenigstens passt?“
Mein Freund Manfred hatte einen Bekannten, der so ein Berlinfahrer war. Er wohnte in der Pestalozzistrasse in einem zur damaligen Zeit recht luxuriös eingerichteten möblierten Zimmer. Auch ein Klavier war vorhanden und Günter Brummack konnte sogar darauf spielen. Gönnerhaft hielt er uns manchmal frei oder er lud uns auch ein, bei ihm die neusten amerikanische Schallplatten zu hören, die er aus Berlin mitgebracht hatte. Ich erinnere mich noch daran, dass wir die Schallplatte mit dem Country-Song: ,Sentimental Journey‘ mehrere Dutzend mal abspielten, um uns den englischen Text einzuprägen.
Wir bestaunten ihn, aber ich kann nicht sagen, dass wir ihn beneideten.
Mit der Normalisierung der Lebensumstände der damaligen Zeit, vor allem aber wegen des Geldumtausches in den Westzonen, schwanden auch die Möglichkeiten der Berlinfahrer. Nach und nach zerfiel diese Gilde einer absonderlichen Zeit. Als ihre ungewöhnlichen Einnahmequellen versiegten und für sie bei uns nichts mehr zu holen war, verschwanden auch sie, meistens nach Westberlin oder in die Besatzungszonen der westlichen Alliierten.
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