SCHWERER ANFANG

Ich war wieder zu Hause! Blass, mager und glatzköpfig, aber gesund! Voller Ungewissheit, aber mit ein klein wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Das Herz klopfte mir bis zum Halse und die Hand zitterte mir, als ich auf unseren Klingelknopf drückte. Schwach ertönte die Klingel am Ende des Flurs. Ich hörte eine Tür klappen und Schritte herantappen.
Mama kommt!!!??? durchzuckte es mich freudig.
Doch nicht meine Mutter öffnete, wie erwartet, die Korridortür, sondern eine ältere, grauhaarige Frau schaute vorsichtig durch den Türspalt.
Abschätzend taxierte sie mich. Ich sah in meiner zerknitterten und verschmutzten Uniform sicher nicht sehr Vertrauen erweckend aus. Unsicher fragte sie: „Zu wem wollen sie?“

Anna Pohle
Verwundert stellte ich ihr die Gegenfrage: „Sind meine Eltern nicht da? Ich bin Werner Krause und wohne hier!“
„Mein Gott, Junge! Dich hätte ich beinahe nicht mehr erkannt. Das ist ja eine Überraschung. Komm rein. Da wird dein Vater aber froh sein, dass du gesund wieder zu Hause bist. Er hat sich große Sorgen darum gemacht, ob du die letzten Kriegstage heil überstanden hast. Aber nun ist ja alles gut.“
Ehrlich erfreut ließ sie mich eintreten.
Ich war sichtlich irritiert. Sie be-merkte das und versuchte, mir die ungewöhnliche Situation zu erklären.
„Ich bin Anna Pohle. Du kennst mich doch noch? Ich habe mit deinen Eltern in der Tuchfabrik zusammen gearbeitet. Vor ein paar Wochen haben uns die Polen aus unserer Wohnung hinaus-geworfen. Da hat mich dein Vater vorübergehen aufgenommen. Ich bin mit Gitta, meiner Tochter, in eure Schlaf-stube eingezogen. Das ließ sich ohne Probleme machen, weil sie zum Flur eine separate Tür hat. Otto, ich meine dein Vater, ist noch nicht zu Hause. Er hat schon wieder Arbeit. Er ist in der Schuhfabrik in der Nähe des Wasserwerkes in seinem Beruf als Schuhmacher beschäftigt. Du kannst deine Sachen solange hier lassen und ihn, wenn du willst, abholen, er hat um 4 Uhr Feierabend.“
„Und wo ist Mama?“, war meine bange Frage.
„Sie ist, soviel ich weiß, noch nicht vom Treck zurück. Aber dein Vater wird dir sicher alles erzählen können“, war ihre ausweichende Antwort.
Obwohl ich an diesem Tage schon einige Kilometer gelaufen war, machte ich mich auf den Weg und ging meinen Vater von der Arbeit abholen.
Auch mein Vater erkannte mich nicht gleich, als ich in die Werkstatt kam, in der mehrere Schuhmacher bei ihrer Arbeit saßen. Doch als er mitbekam, wer da vor ihm stand, war die Freude groß. Obwohl noch nicht Feierabend war, gab der Meister meinem Vater frei und wir gingen gutgelaunt zusammen nach Hause. Unterwegs erzählte er mir dann, dass Mama vom Treck nicht wieder nach Guben zurückgekommen war, sondern bei ihrer Schwester in Forst geblieben war, wo auch ihr Vater, den die Polen aus Sommerfeld vertrieben hatten, eine Bleibe gefunden hatte.
„Jetzt, wo du wieder da bist, wird sie bestimmt ihre Meinung ändern, und wieder zu uns zurück kommen“, gab er seiner Hoffnung Ausdruck. Damit hatte er nicht unrecht, aber es dauerte doch noch bis zum Dezember, bis sie ihre Vorbehalte überwunden hatte und wieder nach Guben kam.
In der Wohnung merkte man, dass die ordnende Hand einer Frau fehlte. Die Küche war nicht aufgeräumt und unabgewaschenes Geschirr stand herum. Aber sonst war alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Doch die Wohnstube war völlig verändert. Dadurch, dass mein Vater unsere Schlafstube an Anna Pohle und ihre Tochter abgetreten hatte, waren die Ehebetten meiner Eltern in die Wohnstube umgeräumt worden. Mein Bett war aber in der Schlafstube gebliebe und wurde von unserer Einquartierung genutzt, denn die beiden Frauen hatten ja nichts mitnehmen können und sie musste ja auch irgendwo schlafen
Obwohl es durch das Umräumen in der Stube schon recht beengt war, standen an der Wand neben dem Ofen noch zwei schwere Sessel, auf der Couch lagen zusammengerollt ein großer Teppich und ein Läufer, und überall lagen und standen noch andere Sachen, die uns nicht gehörten.
Mein Gott, das kann doch nicht wahr sein!!?? schoss es mir durch den Kopf, mein eigener Vater hat die Wirren der letzten Kriegstage dazu benutzt, um zu plündern und sich am Eigentum anderer zu bereichern.
Er sah, dass mir das nicht gefiel, und versuchte, sich zu rechtfertigen.
„Weißt du“, war er verlegen bestrebt, sein Tun zu begründen, „ich dachte, bevor die Sachen durch die Kriegseinwirkungen zerstört, oder von den Russen weggenommen werden, stellst du sie sicher. Wenn die Eigentümer zurück kommen sollten, gebe ich sie ihnen natürlich zurück.“
Zum Glück dauerte es auch nicht lange, und die Ersten kamen, um ihr Eigentum zurück zu fordern. Sie waren von Leuten, die meinen Vater bei seinem Tun beobachtet hatten, darüber informiert worden, wo sie ihre Habe finden konnten. Die Situation war äußerst peinlich. Zum Glück waren die Leute damit zufrieden, ihre Habseeligkeiten wieder zurück zu bekommen, und es gab kein juristisches Nachspiel. Doch der gute Ruf meines Vaters war für lange Zeit arg in Mitleidenschaft gezogen.
Mein Vater wühlte im Kleiderschrank herum: „Wollen wir doch mal sehen, ob wir was für dich zum Anziehen haben. Du wirst doch sicherlich zufrieden sei, endlich aus den alten Wehrmachtsklamotten heraus zu kommen!!??“

Ein Hemd und eine passende Hose waren schnell gefunden. Es war ein herrliches Gefühl, endlich wieder Zivilist zu sein. Die alten Uniformteile wanderten auch gleich in die Müllkute. Zu gebrauchen waren sie eh nicht mehr und Läuse und Wanzen wollte sich mein Vater damit auch nicht noch einschleppen.
Aber die Schuhe, die mir mein Vater gab, waren zu eng und drückten ganz gemein. Besonders beim linken hatte ich Schwierigkeiten, hinein zu kommen. Um mir ein klein wenig Erleichterung zu verschaffen, nahm ich mir den Spazierstock meines Vaters, ein Stück aus seiner Jugend, ein Relikt der zwanziger Jahre, ein gelber Stock aus spanischem Rohr.
Mit diesem Stock hatte ich ein amüsantes Erlebnis. Meine Freunde und ich wollten ins Kino gehen. Es spielte ein spannender Film und die Schlange an der Kasse war lang. Ich hatte mich angestellt, um für uns vier Karten zu kaufen. Um das linke Bein mit dem drückenden Schuh etwas zu entlasten, hatte ich es über die Krücke des Spazierstockes gelegt. Als die Kassiererin mich so stehen sah, beugte sie sich aus dem Kassenfenster und rief mir zu: „Hallo, sie als Kriegsversehrter brauchen sich nicht anstellen, sie können gleich vorkommen!“
Ich bemühte mich nicht, den Irrtum aufzuklären, sondern humpelte nach vorn, und kaufte, ohne lange zu warten, die vier Karten. Wir haben uns noch lange über diesen Streich amüsiert und uns ausgemalt, was die Kartenverkäuferin wohl gesagt hätte, wenn ihr bekannt gewesen wäre, dass mir in Wirklichkeit nur der Schuh gedrückt hatte.
Die kommenden Tage hatte ich reichlich zu tun. Ich kochte jeden Tag etwas zum Mittag, und brachte es meinem Vater in den Betrieb. Ich meldete mich auf dem Einwohnermeldeamt an, um das Geld zu bekommen, das allen Heimkehrern als Anfangsunterstützung gewährt wurde, aber vor allem auch, um in den Besitz der notwendigen Lebensmittelkarten zu kommen, was damals lebensnotwendig war.
Ich besuchte auch meinen ehemaligen Lehrbetrieb, die Firma Wilhelm Quade, denn ich wusste ja zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, ob ich meine Gesellenprüfung bestanden hatte, und ich wollte ja auch in meinem Beruf wieder arbeiten. Doch in den Betriebsräumen herrschte gähnende Leere. Die Maschinen und Ausrüstungen waren demontiert und als Reparationsleistungen in die Sowjetunion transportiert worden. Nur in einem der Büroräume befand sich noch ein alter Angestellter, der für die ordnungsgemäße Abwicklung die Verantwortung trug. Von ihm erhielt ich auch die Bescheinigung, dass ich erfolgreich meine Berufsausbildung abgeschlossen hatte. Er hatte sie zufällig unter den alten Akten gefunden und sicherheitshalber aufbewahrt.
Aber auch mit der Arbeit klappte es bald. Die Maschinenfabrik und Eisengießerei Köhler in der Bahnhofstraße hatte wieder mit der Produktion begonnen und auch die Modelltischlerei war wieder in Betrieb.
Am 19. September 1945 begann ich dort meine Tätigkeit als Modelltischler. Ich verdiente mein eigenes Geld, aber was noch wichtiger war; ich erhielt die Lebensmittelkarte für Schwerarbeiter und damit eine bessere Versorgung.
Langsam, aber doch sichtbar, begann sich alles wieder zu normalisieren.
Hoffnungsvolle Zeit!!!
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