AKTIVER FRONTEINSATZ

Auf einmal wurde es auch für uns ernst. Die hohen Verluste in den letzten Kriegstagen zwangen die Nazi-Führung dazu, auch die letzten Reserven in den Kampf zu werfen. So wurde für uns aus der sogenannten frontnahen Ausbildung plötzlich ein aktiver Fronteinsatz. Wir mussten unsere Panzerfäuste abgeben und wurden kampfmäßig bewaffnet. Jeder erhielt einen Karabiner, 60 Schuss scharfe Munition und 4 Eierhandgranaten. So ausgerüstet wurden wir am Montag, dem 16. April in Marsch gesetzt, um im Bereich Güldendorf an der Bahnstrecke Frankfurt/Oder-Cottbus in der Höhe des Faulen Sees einen Schützengrabenabschnitt zu besetzen und zu verteidigen. Es war schon später Nachmittag, als wir in Booßen abmarschierten. Wir bewegten uns nicht auf der Straße, weil wir dort einzusehen waren und sofort beschossen worden wären. Unser Marsch ging durch gedecktes Gelände. Plötzlich wies ein Kamerad, der vor mir ging und sich zufällig umgedreht hatte, auf die Handgranaten an meinem Koppel und sagte ganz aufgeregt: „Werner, pass auf, bei dir haben sich zwei Reißknöpfe von den Zündern gelöst und baumeln an der Reißleine vor deinem Bauch herum.“ Mich durchfuhr ein heißer Schreck, als ich mir der Gefahr bewusst geworden war, in der ich mich befand. So ein Knopf, mit dem man durch Reißen an der Verbindungsschnur die Handgranate scharf machte, hätte sich nur irgendwo verheddern brauchen, und ich hätte mich selbst in die Luft gesprengt. Nachdem ich vorsichtig die Knöpfe wieder einschraubte hatte, machten wir auch die anderen auf dieses selbstmörderische Problem aufmerksam. Das war auch dringend nötig, denn bei den meisten hatte sich auch ein Teil dieser Knöpfe gelöst.

Als wir in unserem Einsatzbereich ankamen, war es bereits dunkel geworden. Das Bellen der Maschinengewehre, die Abschussgeräusche der Karabiner und Granatwerfer und die Feuergarben der Leuchtspurgeschosse zeigten uns, dass wir uns in unmittelbarer Frontnähe befanden und Vorsicht geboten war. Deshalb nutzten wir auch den Schützengraben, um weiter nach vorn zu gelangen. Es war aber nicht einfach, denn alle paar Schritte mussten wir über irgendwelche Hindernisse steigen, die im Graben herumlagen und die, wenn wir zufällig drauftraten, elastisch nachgaben. Es dauerte eine Weile, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und wir erkannten, es waren menschliche Körper, die da im Graben lagen. Da lief uns denn doch eine Gänsehaut über den Rücken, und wir machten, dass wir wieder aus dem Graben kamen. Lieber nahmen wir die Gefahr in Kauf, zufällig von einem Geschoss getroffen zu werden, als weiter über die Leichen der gefallenen Soldaten zu steigen. Am Einsatzort blieb uns jedoch nichts weiter übrig, wir mussten, ungeachtet der Toten, wieder in den Graben steigen und unsere Stellung beziehen. Unsere Gruppe besetzte einen Grabenabschnitt von etwa 70 Metern, der an der Bahnböschung endete. Alle zwei bis drei Meter wurde ein Mitglied meiner Gruppe postiert. Mein Platz war genau am Ende des Schützengrabens an der Bahnböschung. Ich setzte mich also auf meinen Tornister, nahm meinen Karabiner zwischen die Knie und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Erst als der Morgen graute, wurde es uns möglich, unsere Lage genauer zu beurteilen. Den Graben, in dem wir uns befanden, hatten vermutlich Sowjetsoldaten zu stürmen versucht und sind von unseren Truppen zurückgeschlagen worden. Davon zeugten auch die toten Rotarmisten im Graben. Etwa 150 Meter vor uns war der Feind dabei, sich einzugraben. Zwischen uns war ebenes Gelände.
Ich hatte von meinem Punkt aus, die Gleise entlang, freie Sicht. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein kleines Bahnwärterhäuschen und dahinter das bewachsene Gelände des Faulen Sees. Die Lage war relativ ruhig.
Als Erstes schafften wir die toten Sowjetsoldaten aus dem Graben. Es waren junge Kerle, nicht älter als wir, sinnlos abgeschlachtet in diesem grausamen Krieg. Ich erschrecke noch heute, wenn ich daran denke, mit welcher Gefühllosigkeit wir damals diese Aufgabe erledigten. Neugierig schauten wir in die kleinen, oben eigentümlich zusammengeschnürten grünen Rucksäcke der gefallenen Sowjetsoldaten, die, neben einigen anderen Ausrüstungsgegenständen von ihnen, im Graben herumlagen. Sie enthielten einige persönlichen Sachen, sowie ein paar harte Brotkanten, ein, in ein Leinenläppchen gewickeltes, Stück Speck und Beutelchen mit Salz und Zucker. Da konnten wir im Vergleich mit unserer Verpflegung wirklich zufrieden sei, abgesehen davon, dass das Mittagessen, das ein Kamerad mit einem Thermosbehälter von der Gulaschkanone holen musste, manchmal schon kalt war.
Der Tag verging ohne besondere Vorkommnisse. Auf der russischen Seite konnten wir erkennen, dass fleißig geschanzt wurde, um sich für Verteidigungszwecke ein Grabensystem zu schaffen. Während dieser Tätigkeit war hin und wieder ein stahlhelmbewehrter Kopf zu erkennen und da und dort blitzte ein Spaten in der Sonne auf. Etwa 10 Meter vor uns im Niemandsland lag eine russische Maschinenpistole mit rundem Magazin, die unser Interesse weckte, aber im Moment für uns unerreichbar war.
Nach einer recht ruhigen Nacht wagte es im Morgengrauen aber ein Kamerad, aus dem Graben zu klettern und die Waffe zu holen. Im Magazin waren noch Patronen. Natürlich versuchten wir, mit der Maschinenpistole zu schießen. Es war eine Schpagin, Modell 41, umschaltbar auf Einzel- oder Dauerfeuer, in deren Trommelmagazin 71 Schuss Munition hineingingen. Zu unserer Verwunderung war sie, obwohl völlig verdreckt, voll funktionstüchtig. Ein Sturmgewehr von uns hätte unter diesen Umständen bestimmt nicht mehr funktioniert. So ballerte jeder von uns einmal einen Feuerstoß in Richtung feindliche Linie, bis das Magazin leer war, und wir freuten uns mächtig über den Spaß den wir dabei hatten. Unser Ausbilder versetzte uns im Nachhinein jedoch noch einen Schreck, als er verkündete: „Jungs, seid bloß vorsichtig, die Maschinenpistolen der Iwans sind so fein eingestellt, dass sie schon losgehen, wenn man sie bloß kräftig mit dem Kolben auf die Erde aufstößt.“
Auch dieser Tag verlief, ohne dass etwas Außergewöhnliches passierte.
Am späten Abend jedoch gab es für uns eine kleine Überraschung. Wir vernahmen Motorengeräusche. Ein Flugzeug brummte über unserer Stellung. Es hörte sich an, als wenn eine Nähmaschine ratterte. Plötzlich verstummte der Motor, dafür detonierten um uns herum mehrere Granaten. Dann setzte der Motor wieder ein und das Flugzeug verschwand wie ein Spuk im nächtlichen Dunkel. Fast jede Nacht setzte uns dieser russische Flieger zu. Es war, wie uns unser Zugführer sagte, eine U-2, ein recht leicht gebauter Doppeldecker mit zwei offenen Sitzen, dessen Rumpf nur von unten eine leichte Panzerung als Schutz für den Piloten und seinen Mitflieger besaß. Die Granaten wurden durch den Mitflieger per Hand aus dem Flugzeug geworfen. Wegen seiner hinterlistigen Nachtangriffe wurde er Nebelkrähe, oder wegen seines Motoren-geräusches auch ,Die Nähmaschine‘ genannt. Und da er immer im Gleitflug angriff, war man vor ihm nie sicher.
Auf die Dauer kann der Aufenthalt im Schützengraben ohne sinnvolle Beschäftigung Langeweile auslösen. Deshalb verschaffte ich mir etwas Kurzweil, indem ich mit meinem Karabiner auf die Isolatoren der Telefonmasten auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise schoss. Als ich nach dem ersten Schuss nachladen wollte, bekam ich den Verschluss nicht auf. ‚Verdammte Scheiße‘, fluchte ich vor mich hin und klopfte mit dem Handballen mit aller Wucht gegen den Kammerstengel. Die Hand tat mir weh, aber der Verschluss rückte und rührte sich nicht. Erst mit Hilfe des Spatens konnte ich ihn gewaltsam öffnen. Auch beim zweiten und dritten Schuss erging es mir so. Deshalb machte ich meinem Gruppenführer Meldung. Er fand heraus, dass nicht mein Gewehr, sondern die Munition an diesem Schlamassel schuld war. Die Hülsen meiner Karabinermunition waren nicht, wie eigentlich üblich, aus Messing, sondern aus rostbeständigem, lackiertem Ersatzmaterial. Das war eine Folge der Rohstoffknappheit bei Zink und Kupfer gegen Ende des Krieges. Beim Auslösen eines Schusses brannte sich der Lack der Hülse im Patronenlager fest und verhinderte so das problemlose Öffnen des Gewehrschlosses.
Die darauf folgende Kontrolle zeigte: viele meiner Kameraden hatten solche Patronen in ihren Patronentaschen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn uns ein Angriff des Feindes überrascht hätte, und wir nach jedem Schuss den Spaten hätten nehmen müssen, um erneut feuern zu können. Zum Glück war die lackierte Munition beim Maschinengewehr zu verwenden. Deshalb tauschten wir sofort unsere Lackierten gegen die Messingpatronen aus den Patronengurten unseres MGs aus.
Verteidigungsmäßig gab es für uns keinen zwingenden Grund, den Feind zu beschießen. Es war eher Übermut, der den Ausschlag dafür gab.
Zuerst schossen wir nur auf die Spaten, wenn sie über den Grabenrand geschwungen wurden. Später nahmen wir jedoch auch sichtbare Stahlhelmkuppen aufs Korn. Die Folge war: Wir sahen bald weder Spaten noch Helme über dem Rand des Grabens, dafür bekamen nun wir gezieltes Feuer vom Feind. Und er schoss gut! Und er schoss mit Explosiv-geschossen, was die Sache noch gefährlicher machte. Das konnte ich bald am eigenen Leibe spüren.
Natürlich waren auch wir vorsichtiger geworden und lugten immer nur für einen kurzen Moment über den Grabenrand, wobei wir auch den Standort wechselten. Trotzdem hatte mich ein gegnerischer Schütze ausgemacht und auf mich gefeuert. Das Geschoss detonierte kurz vor meinem Gesicht auf dem Grabenrand. Zuerst sah ich nur Feuerfunken spritzen, dann dröhnte mir der Knall in den Ohren. Ich ließ mich rückwärts in den Graben fallen und dachte erschrocken: Jetzt hat es dich erwischt! Doch schließlich merkte ich: Tot war ich nicht, aber mein Gesicht war mit Erde bespritz und steckte voller kleiner Geschosssplitter. Nur langsam konnte ich mich von dem Schrecken erholen. Mir wurde erst nach und nach klar, dass ich dem einen Zentimeter mein Leben verdankte, den der Russe zu tief gezielt hatte. Ein Kamerad entfernte die Splitterchen, verarzte die kleinen Wunden und säuberte mein Gesicht. Die Nervenanspannung löste sich langsam, aber der Körper reagierte mit etwas Fieber. Deshalb befahl mir mein Gruppenführer: „Soldat Krause, sie legen sich erst einmal in den Unterstand und erholen sich etwas von dem Schock. Wenn es ihnen wieder besser geht, melden sie sich zurück.“
Ich verschwand im Unterstand und verkroch mich unter meiner Decke. Für eine Weile hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal die Schnauze voll vom Krieg!!!
Tags darauf ging es mir schon wieder etwas besser. Nur das Gesicht war noch leicht geschwollen und ich hatte, sicher vom Schreck, die Scheißerei bekommen. Während meiner recht ausgedehnten Sitzung auf dem Donnerbalken gesellte sich ein Kamerad zu mir.
„Sag mal“, zog er mich ins Gespräch, „hast du auch schon gehört, der Amerikanische Präsident Roosevelt ist gestorben. Sein Nachfolger soll Truman werden. Hitler hat große Hoffnung, dass Truman den Krieg mit Deutschland beendet und gemeinsam mit uns gegen die Russen kämpfen wird. Damit wären wir aus dem Schneider, wie die Skat-Spieler zu sagen pflegen.“
Von meinem Dünnpfiff voll in Anspruch genommen, reagierte ich recht ungehalten auf seine Information: „Ach, lass mich doch mit deinen ‚Scheißhausparolen‘ zufrieden!“
Sichtlich über mein Desinteresse verärgert, wischte er sich seinen Hintern, zog seine Hose hoch und ließ mich allein auf dem Balken hocken.
„Dann eben nicht, du Arschloch!!!“, brummte er noch vor sich hin, und verschwand.
Bald stellte sich heraus, dass Roosevelt tatsächlich gestorben und Truman wirklich sein Nachfolger geworden war. Nur der Wunsch der Hitlerclique, dass nun die Amerikaner mit den Deutschen gemeinsam gegen die Russen kämpfen würden, erfüllte sich nicht!
Wir mussten also weiter unsere Haut zu Markte tragen. Zu unserem Glück hatte die sowjetische Heeresführung ihre Truppen bei der Berlin-Offensive nördlich und südlich an Frankfurt vorbeigeführt, und uns so noch etwas Ruhe gegönnt.
Nach einer gewissen Zeit wurde unser Zug von einer anderen Einheit im Graben abgelöst. Wir marschierten nach Frankfurt hinein und bezogen in der Wohnung einer Musiklehrerin in der Müllroser-Landstraße Quartier.
Unsere Gruppe war ins Musikzimmer eingewiesen worden. Es war schon dunkel, und da es in Frankfurt längst keinen Strom mehr gab, stellten wir überall Kerzen auf, um wenigstens etwas Licht zu haben. Ohne Rücksicht auf die guten Möbel und Einrichtungsgegenstände, einschließlich des Markenflügels, der in der Mitte des Raumes stand, nahmen wir in Landsermanier von der Guten Stube Besitz. Wir hauten unsere Tornister in die Ecke, stellten unsere Gewehre an die Wand, zerkratzten mit unseren Stahlhelmen den Schleiflack von Tisch und Anrichte, hingen ungeniert unsere Koppel mit allen Utensilien an Türklinken und Fensterriegel und fläzten uns in das Sofa und in die Klubsessel. Erst einmal ausruhen war die Parole.
Dabei geschah es!
Ein gewaltiger Knall erfüllte das Zimmer und dröhnte uns in den Ohren. Wie es uns eingebläut worden war, hatte jeder von uns hinter irgend einem Gegenstand blitzschnell Deckung gesucht. Der erste Gedanke war: Jetzt hat doch irgend so ein Blödling aus Versehen eine Eierhandgranate explodieren lassen!!!
Das halbdunkle Zimmer war gespenstisch leer geworden. Der Pulverdampf der Detonation waberte im Raum, und darin, unwirklich verzerrt, die Silhouette eines Kameraden, an dessen rechtem Bein, von der Wade bis zum Gesäß, eine rot-grün-gelbe Flamme magisch auf und ab züngelte. Er hatte, als er sich auf das Sofa fallen ließ, die dort liegende Leuchtpistole übersehen und sich unabsichtlich eine rote Leuchtkugel in die Kniekehle geschossen. Zum Glück hatte der derbe Uniformstoff das Schlimmste verhindert, so dass er nur ein paar Brandwunden an der Wade und am Oberschenkel hatte, die unser Sani schnell verarztete. Unter anderen Umständen wäre das als Selbstverstümmelung ausgelegt worden und hätte im schlimmsten Falle vor einem Kriegsgericht geendet.
Nachdem wir diesen unangenehmen Zwischenfall einigermaßen überwunden hatten, gingen wir daran, uns von dem Grabendreck zu säubern und ein wenig Ordnung in unsere Klamotten zu bringen. Bevor wir uns zur Ruhe begaben, machte ich mit zwei Kameraden noch einen Erkundungsgang durchs Haus.
Vielleicht gab es etwas zu Organisieren, wie die Beschaffungsstrategie der Soldaten genannt wurde.
Die Hoffnung, im Keller eventuell etwas Eingemachtes zu finden, mussten wir bald aufgeben. Andere hatten sich vor uns schon darüber her gemacht. Davon zeugten leere Einweckgläser, die im Kellergang herumstanden. Einige waren aber auch mutwillig zerschlagen worden, und ihr Inhalt lag verschimmelt auf dem Fußboden. Schade!!
Am nächsten Morgen, es muss Sonntag, der 22. April gewesen sein, verließen wir Frankfurt in Richtung Fürstenwalde. Das war sicher unser Glück, denn am 23. April wurde die Stadt von der Sowjet-Armee erobert.
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