HITLERS LETZTES AUFGEBOT

In der letzten Märzwoche 1945, wenige Tage vor der Entlassung aus dem RAD, verteilte der Schreibstubenhengst, wie wir ihn nannten, unsere Einberufungsbefehle zur Wehrmacht. Voller freudiger Erwartung riss ich die graue Klappkarte auf. Ich hatte mich noch während der Schulzeit freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet und hoffte, dass mein Wunsch trotz der schwierigen Lage an allen Fronten doch noch in Erfüllung ging. Wie enttäuscht war ich, als ich nun las: „...Sie haben sich am Dienstag, dem 27. März 1945, bis 18.00 Uhr beim Grenadier Ausbildungs- und Ersatzbatallion 203 in Berlin-Spandau zu melden.....“

Naiv, wie ich war, vermerkte ich zu dieser Problematik in meinem Lebenslauf: „...auf Grund des C H A O S im Frühjahr 1945 kam meine Freiwilligenmeldung zur Kriegsmarine nicht mehr zur Wirkung...“

Erst viel, viel später, nach der Deutschen Wiedervereinigung, als ich in mir bis dahin nicht verfügbare Materialien einsehen konnte, stellte ich fest, dass ich in meinem Lebenslauf eine fatale Fehleinschätzung getroffen hatte!
Im ,Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944/45‘ gibt es unter der Überschrift: ‚Die Verwendung des Jahrgangs 1928 für den totalen Kriegseinsatz‘ folgende lapidare Eintragungen:

28.1.45
Vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht wurde ein Führerbefehl über die Heranziehung des Jahrgangs 28 für die Neuaufstellung und Auffrischung schlagkräftiger Verbände herausgegeben. Die planmäßige Ausbildung sollte unter allen Umständen gesichert werden.

14.2.45
Dem Oberkommando Marine wird mitgeteilt, dass auf Anforderung des Führers der Anteil der Kriegsmarine am Geburtsjahrgang 28 um 5.000 Dienstpflichtige und 10.000 Freiwillige herabgesetzt wird. Der Oberbefehlshaber Marine erklärte sich bereit, den Anteil der Freiwilligen um weitere 10.000 zugunsten des Heeres herabzusetzen.

17.2.45
Durch RAD-Entlassungen sind monatliche Zuführungen für alle Wehrmachtsteile zu sichern.
Zu den 52000 Mann, die zum 26.3.45 aus dem RAD zugeführt wurden, gehörte auch ich!!
Noch im Nachhinein ist es erschreckend, zu lesen, wie die Maschinerie der Nazis bis zum grausigen Ende funktionierte, jede Reserve erfasste und einer sinnlosen Abschlachtung zuführte. Im heutigen Computerjargon würde es heißen: Die Logistik bewährte sich bis zuletzt ausgezeichnet.

Unsere Entlassung vom RAD erfolgte am Sonntag, dem 25. März. Die meisten von uns konnten noch mal nach Hause fahren, bevor sie sich zu ihren Wehrmachtseinheiten begaben. Mir war das leider nicht vergönnt. Guben war bereits Frontstadt und in schwere Kämpfe verwickelt. Wo sich meine Eltern befanden, wusste ich nicht. Zu meinem Glück nahm mich ein Kamerad, der auch nach Berlin-Spandau einberufen war, mit zu sich nach Hause. Er wohnte in Lübbenau, einem kleinen Städtchen im Spreewald, das von den Kriegseinwirkungen bisher noch verschont geblieben war. Als Heimatloser von seiner Mutter freundlich aufgenommen, verlebte ich vor meiner Einberufung noch einen herrlichen Tag in dem relativ ruhigen kleinen Spreewaldstädtchen. Und das schönste war ein leckerer frischer Kuchen, den die Mutter meines Kameraden zum Abschied für uns gebacken hatte.
Pünktlich zum geforderten Termin rückten wir beide mit unserem Köfferchen in Berlin-Spandau an. Als wir an der Kaserne einen älteren Soldaten, der dort Wache stand, fragten, ob wir hier richtig sind, schaute er verständnislos auf uns Knirpse – wir waren ja beide noch keine 17 Jahre alt – und brummte unwirsch: „Ja, Kinder, ihr seid hier richtig; aber was wollt ihr denn noch hier; ihr werdet den Karren auch nicht mehr aus dem Dreck ziehen; für euch wäre es besser, ihr haut gleich wieder ab und geht nach Hause zu Muttern!!!“
Im Nazisinne erzogen, ignorierten wir seinen gutgemeinten Rat und begaben uns in die Kaserne, um uns weiter für den „siegreichen Endkampf“ ausbilden zu lassen.
Für knapp 14 Tage wurde nun die Kaserne unser Zuhause. Nach der Einkleidung traten wir auf dem Exerzierplatz zum ersten Appell an. Unser Kompanieführer, ein junger Leutnant, hielt eine kurze Ansprache, um unseren Kampfes- und Durchhaltewillen anzustacheln. Er war gerade von der Offiziersschule gekommen. Man merkte, er war auf den Endsieg eingeschworen und ein fanatischer Hitleranhänger bis in die blankgeputzten Stiefelspitzen. Nicht viel älter als wir, versuchte dieser kleine Nazi-Rambo seine fehlende Truppen- und Fronterfahrung durch besonders zackiges Auftreten zu kompensieren. Dafür erntete er bei unseren Ausbildern, abgeklärten Frontsoldaten, die wegen schwerer Verwundungen nur noch Kasernentauglich waren, lediglich ein müdes Lächeln.
Nach dem Appell gingen sie zur ‚Tagesordnung‘ über und ersparten uns glücklicherweise all zu harten preußischen Drill und vor allem niederträchtige, menschenverachtende Schikane.
Die Schwerpunkte unserer Rekrutenausbildung waren Waffenkunde und Marsch- und Geländeübungen. Als Grenadiere wurden wir am leichten Maschinengewehr ‚LMG 42‘ ausgebildet. Wir lernten theoretisch die einzelnen Teile des Maschinengewehrs kennen und mussten sie auswendig hersagen können. In der praktischen Ausbildung wurden wir darauf getrimmt, in der kürzesten Zeit die Waffe einsatzbereit zu machen, das heißt: Rohr wechseln, Patronengurt einlegen, MG in Anschlag bringen, Spannen, Sichern usw.
Natürlich machten unsere Ausbilder auch ihre kleinen Späße mit uns. So fragte mich unser Zugführer, Unteroffizier B r i e s e, in einer Unterrichtsstunde: „Grenadier Krause, können sie mir sagen, in wie viele Teile das LMG 42 zerfällt?“
„Herr Unteroffizier“, antwortete ich zackig, „das LMG 42 zerfällt in den Schaft, den Kolben, den Lauf, die Visiereinrichtung, das Zweibein....“
„Grenadier Krause, sie sind ein Trottel“, unterbrach mich der Unteroffizier grinsend, „sie wissen doch gar nicht, in wie viele Teile so ein MG zerfällt. Das hängt doch ganz davon ab, wie sie es hinschmeißen!“
Es war sicher ein Zufall, aber ich wurde MG-Schütze 1. Dadurch hatte ich zwei Privilegien:
Erstens durfte ich bei Ausmärschen ins Gelände die schwere Waffe schleppen.
Zweitens bekam ich statt eines Karabiners eine Pistole. Das wurde während der Ausbildung zwar nur mit einer leeren Pistolentasche demonstriert, hatte für mich aber den Vorteil, dass ich darin, wenn wir zu Geländeübungen ausrückten, meinen Proviant unterbringen konnte.
Zur Geländeausbildung marschierten wir durch Spandau in den Spandauer Forst zu den Reh-Berge. Schon auf dem Wege dorthin sorgten unsere Ausbilder durch kleine Einlagen für Kurzweil. Da gab es Gasalarm und wir marschierten ein Stück unter der Gasmaske. Oder es hieß: Achtung, Feindeinsicht! Gruppen zu 5 Mann im Abstand von 15 Metern im Laufschritt Marsch! Marsch! Dann wieder kam die Mitteilung: Panzer von links! und wir mussten auf der rechten Straßenseite im Straßengraben Stellung beziehen. Es konnte aber auch heißen: Tiefflieger von hinten! Das bedeutete für uns: Schütze 2 hatte das MG am Zweibein zu packen und sich über die Schulter zu legen, Schütze 3 musste den Patronengurt einlegen und Schütze 1 hatte die Waffe zur Tieffliegerbekämpfung in Anschlag zu bringen. Alle anderen hatten volle Deckung zu nehmen. In dieser Art und Weise warm gemacht, übten wir dann in den Reh-Bergen Schützenmulden ausheben, uns zu tarnen und im Gelände unerkannt zu operieren, mit Übungshandgranaten einen angenommenen Feind zu attackieren oder unter Ausnutzung einer Bodenerhebung in eine günstigere Stellung zu robben. Wir waren immer fix und fertig, wenn wir abends wieder in die Kaserne zurückkamen. Doch dann wurde noch Putz- und Flickstunde befohlen, damit wir am anderen Tag wieder voll einsatzbereit waren.
Nicht ganz 2 Wochen hatte unser Dienst in der Kaserne gedauert, da wurden wir feldmarschmäßig eingekleidet. Es hieß, wir werden in eine andere Kaserne in der Nähe der Front verlegt, aber das Gerücht, wir würden in den Kampf geschickt, hielt sich hartnäckig. Auf einem Appell am Vormittag des 8. April, es war ein Sonntag, mussten wir den Fahneneid auf Führer, Volk und Vaterland ablegen. Danach bekamen wir unseren ersten Ausgang bis 22.00 Uhr. Wir nutzten die Gelegenheit, uns in Spandau umzusehen. Aber es war trostlos. Überall Ruinen! Die wenigen Menschen, denen wir begegneten, schienen bedrückt und ängstlich. Von uns wurde kaum Notiz genommen. Es war langweilig und wenig ermutigend. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass wir schon weit vor 22.00 Uhr wieder in der Kaserne waren. Die letzte Nacht in der Kaserne schliefen wir recht unruhig, denn niemand wusste, was uns die kommende Zeit bringen würde, aber etwas Gutes würde es bestimmt nicht sein.
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