KINDERSPIELZEUG

Der totale Krieg der Nazis verschlang alle verfügbaren volkswirtschaftlichen Ressourcen. Er hatte auch dazu geführt, dass die Spielzeugproduktion zugunsten der Rüstungsproduktion eingestellt worden war. Spielzeug war also Mangelware. Aber Weihnachten stand vor der Tür und die Nachfrage danach war groß. Verschärft wurde die Situation noch dadurch, dass die Kinder ausgebombter Familien für gewöhnlich ihr gesamtes Spielzeug verloren hatten. Deshalb war Mitte des Jahres 1943 an die ‚Hitlerjugend‘ (HJ) und den ‚Bund Deutscher Mädchen‘ (BDM) der Aufruf ergangen, Kinderspielzeug zu basteln. Das war wegen der Rohstoffknappheit gar nicht so einfach. Aus diesem Grunde ging auch an die Betriebe der Appell, die vorhandenen Möglichkeiten für die Herstellung von Spielzeug zu nutzen, und so die Bemühungen der HJ und des BDM zu unterstützen.

So kam es, das auch wir Modelltischlerlehrlinge bei der Firma Quade den Auftrag erhielten, aus vorhandenen Abfällen Spielzeug zu fertigen. Das machte uns Spaß und wir gingen mit Feuereifer an die Arbeit.
In Absprache mit unserem Lehrgesellen bauten wir überwiegend Holztiere zum Ziehen (z.B. Dackel, deren Körper aus Teilen bestanden, die sich, mit Scharnieren verbunden, seitlich bewegen konnten), aber auch stabile Lastautos, einfache Schiffsmodelle und Schaukelpferde.
Da wir in der Modelltischlerei unsere Holzmodelle auch lackierten, stand uns dementsprechend schwarze, rote, gelbe und blaue Lackfarbe zur Verfügung, um unser Spielzeug farbenprächtig zu bemalen. Unsere Tischlerei sah während dieser Zeit wirklich wie die Werkstatt des Weihnachtsmannes aus. Als sich unser Betriebsführer persönlich über die Ergebnisse unseres Schaffens informierte, sparte er, angesichts der schönen Spielsachen, nicht mit Lob.
Es gab ein großes Hallo, als wir unser Spielzeug in einem Wäschekorb auf der Dienststelle der HJ in der Grünen Wiese abgaben, denn es waren wirklich Sachen, die ein Kinderherz höher schlagen ließen. Wir heimsten, da jedes Spielzeug mit Punkten bewertet wurde, eine recht hohe Punktzahl für uns ein und unsere Spielsachen konnten darüber hinaus auf der regionalen Ausstellung bewundert werden. Was uns damals aber besonders freute, war die Tatsache, dass auf dem Weihnachtsmarkt der HJ unser Spielzeug gute Erlöse einbrachte, die dem Kriegswinterhilfswerk der NSV zugute kamen. Dass wir damit halfen, den Krieg zu verlängern, war uns damals nicht bewusst.
Die Schaukelpferde waren für Kinder im Alter von 2 bis 5 Jahren geeignet. Sie bestanden aus zwei Schaukelkufen, einem halbrunden Sitz, der von einem kleinen Geländer begrenzt war und einem Pferdekopf, mit einer Querstange zum Festhalten.
Mein Cousin Martin, der Sohn meiner Tante Frieda in Atterwasch, war 3 Jahre alt. So ein Schaukelpferd war also das ideale Weihnachtsgeschenk für ihn. Also baute ich, zusätzlich zu unseren Spielsachen für die HJ, heimlich ein solches Schaukelpferdchen für ihn mit.
Es bereitete mir keine großen Schwierigkeiten, die Einzelteile aus dem Betrieb zu schmuggeln und auch etwas Lackfarbe mitzunehmen. Es war für mich dann ein Leichtes, daheim das Schaukelpferd zusammenzusetzen und bunt zu lackieren.
Weihnachten stand vor der Tür und es wurde Zeit, das Schaukelpferd nach Atterwasch zu bringen. Da es stark geschneit hatte, war nicht daran zu denken, mit dem Fahrrad zu fahren. Eines Abends machte ich mich deshalb zu Fuß auf den Weg nach Atterwasch, um den kleinen Martin mit dem Holzpferdchen zu überraschen. Der Himmel war wolkenlos, die Luft war frostig-klar und die Sterne funkelten. Es war Vollmond. Sein fahles Licht ließ die Schneekristalle wie Irrlichter flimmern. So stampfte ich, warm eingemummelt, die Pudelmütze tief ins Gesicht gezogen, über der linken Schulter einen Rucksack, über der rechten das Schaukelpferd, durch den knirschenden Schnee. Ich muss ehrlich eingestehen, ganz wohl war mir dabei nicht zumute, im Dunklen, so allein, über Deulowitz nach Atterwasch zu laufen.
Tante Frieda hatte gerade das Vieh gefüttert, als ich, durchgefroren, in Atterwasch ankam.
„Junge, das ist aber eine Überraschung“, staunte sie, als ich in meiner Vermummung ins Haus polterte und mir den Schnee von den Schuhen klopfte, „komm schnell rein und wärme dich erst einmal auf. Was bringst du denn da schönes mit? Mein Gott, das ist ja ein Schaukelpferd! Da wird sich Martin aber freuen. Hast du das selber gebaut?“
Sie ließ mir gar nicht die Zeit, ihre Fragen zu beantworten, sondern rannte ins Wohnzimmer, wo mein Cousin spielte. „Martinchen, komm doch ganz schnell mal her. Onkel Werner ist gekommen. Sieh doch mal, was er dir schönes mitgebracht hat. Ein Schaukelpferd!“

Tante Frieda und Martin
Martin kam auf seinen kleinen Füßchen angetrappelt, würdigte mich aber keines Blickes.
„Schaukelpferd! Schaukelpferd!“ jauchzte er, lief mit leuchtenden Augen zu dem Spielzeug und versuchte sofort, allein in den Sitz zu steigen. Da das Holzpferd aber hin und her wippte, gelang ihm das nicht. Hilfesuchend schaute er zu seiner Mama. Die nahm ihn hoch, steckte seine Beinchen behutsam durch die Geländerstäbe, setzte ihn in das Pferdchen und legte seine Händchen um den Haltestab am Pferdekopf.
„So“, sagte sie, „nun kannst du auf deinem Pferdchen reiten.“ Sofort begann er wie wild zu schaukeln. „Nicht so stürmisch, Junge“, versuchte ihn seine Mama zu mäßigen. Doch das kleine Kerlchen war nicht zu bremsen.
Die Freude meines kleinen Cousins über das Geschenk war für mich der schönste Lohn für meine Arbeit. Dankbar nahm ich aber auch den Rucksack voll Kartoffeln und das Stück Speck von meiner Tante entgegen, denn die Zeiten waren für uns Städter damals nicht einfach. Nachdem ich mich etwas aufgewärmt und mit zwei großen Schmalzstulle und einer Tasse heißer Brühe gestärkt hatte, machte ich mich, glücklich und zufrie-den, wieder auf den Weg nach Hause.
Sicher hätte ich das Schaukelpferd für Martin auch so gebaut. Aber die Bastelaktion der HJ hatte mir die Sache denn doch sehr erleichtert.
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