DIE FUNDGRUBE

Es begann alles mit dem Gerücht, bei der Spedition Gustav Ad. Köhler würden irgendwo Armbrüste herumliegen, die einmal als Werbegeschenke für Kinder guter Kunden gedacht waren. Dieses Gerücht bewirkte bei uns Kindern, die in der Nähe wohnten, das gleiche, wie das Gerücht von Goldfunden in Alaska auf die Goldsucher; wir machten uns auf die Suche nach dem erhofften Schatz.

Das Anwesen der Spedition Gustav Ad. Köhler erstreckte sich von der Kurmärkischen Strasse 32, wo sich der Haupteingang und das Geschäftshaus mit den Büros befand, bis zur Mittelstrasse, zu der ebenfalls eine Ausfahrt mündete, die mit einem hohen Holztor verschlossen war. Im hinteren Teil des Objekts befanden sich mehrere Haufen Brikett und Eierkohlen sowie Transportfahrzeuge für Kohle und andere Güter, zum Teil hoch beladen und mit Planen abgedeckt.
Heimlich auf das Gelände der Spedition zu gelangen, machte uns keine großen Schwierigkeiten. Vom Garten des Nachbargrundstücks aus war es ein Leichtes, unbemerkt über den Zaun auf einen der dort stehenden Wagen zu klettern und auf dem Gelände herumzuschnopern.
Auf einem Wagen lagerten riesige Ballen Reißwolle, die in Jutesäcke eingenäht waren. Zwischen den Ballen befanden sich größere Hohlräume, die sich gut als Verstecke eigneten. Obwohl es zwischen den Ballen unangenehm nach Altöl und muffiger Wolle roch, erweiterten wir eine solche Lücke so, dass wir sie als Räuberhöhle für unsere Entdeckungszüge nutzen konnten.
Es dauerte gar nicht lange und wir hatten auf einem alten Planwagen, der ganz hinten in einer Ecke abgestellt war, die Armbrüste entdeckt. Die Schäfte waren aus Holz. In einer Kerbe am vorderen Teil der Armbrust konnte man den schwarz angestrichenen eisernen Bogen einklemmen, an dem zum Spannen eine metallene Litze befestigt war. Durch die lange Lagerung auf dem seitlich offenen Planwagen war der Lack auf den Schäften klebrig aufgequollen, so dass die pappige Masse an den Händen haften blieb. Das störte uns aber gar nicht. Wir hatten gefunden, was wir gesucht hatten. Darüber waren wir glücklich. Jeder bewaffnete sich mit einer Armbrust. In unserer Höhle machten wir uns daran, mit einem Stück Glasscheibe die unangenehm – klebrige Masse abzukratzen, damit wir uns beim Schiessen nicht die Sachen schmutzig machten.
Unsere Kinder-Gang war nun eine Horde Raubritter und die Höhle zwischen den Wollballen unsere Ritterburg. Wir gingen daran, systematisch die anderen Wagen nach für uns interessanten Dingen zu untersuchen. Dabei stießen wir auf eine Kiste, die, wie es aussah, schon lange unter anderen Dingen versteckt lag und die an das Süßwarengeschäft „Süße Quelle“ adressiert war. Das weckte unser Interesse und wir gingen daran, den Inhalt der Kiste zu erforschen. Dazu
lösten wir mit einem alten Schraubenzieher ein Seitenbrett, das schon recht locker saß. Als wir den Inhalt sahen, trauten wir unseren Augen nicht. Die Kiste war mit den leckersten Süßigkeiten gefüllt. Dieser Verlockung konnten wir nicht widerstehen. In unserer kindlichen Unbedarftheit setzten wir uns leicht über das christliche Gebot: ‚Du sollst nicht stehlen‘ hinweg und langten herzhaft zu. Zuerst verzehrten wir unser Beutegut, wie wir es nannten, nur in unserer Höhle. Natürlich nagelten wir jedes Mal die Kiste wieder zu, wenn wir unser Versteck verließen, um nicht zufällig entdeckt zu werden. Bald aber steckten wir uns auch noch die Taschen voll, wenn wir aus unserer Höhle verschwanden. Da wir selbst nicht alles schafften, verschenkten wir einen Teil davon großzügig an die Kleinen in unserem Haus, natürlich mit der eindringlichen Mahnung, niemandem etwas zu verraten. Wenn ich dann trotzdem noch Süßigkeiten übrig behielt, versteckte ich sie vorsichtshalber in meinem Bett unter dem Keilkissen. Ich hatte ständig große Angst, dass meine Mama beim Bettenmachen die gestohlenen Sachen entdecken könnte. Nachts schlief ich schlecht, denn ein schlechtes Gewissen, das spürte ich am eigenen Leibe, ist wirklich kein gutes Ruhekissen.
Eine Woche lang ging alles gut. Dann stand urplötzlich ein Polizist vor unserer Tür. Meine Mama, zum Glück war nur sie zu Hause, fiel aus allen Wolken, als er ihr dienstlich forsch erklärte: „Bei uns liegt eine Anzeige der Spedition Köhler vor. Ihr Sohn soll zusammen mit anderen Kindern vom Betriebsgelände dort gelagerte Sachen gestohlen haben. Kommen sie bitte morgen mit ihrem Sohn zur Vernehmung ins Stadthaus!“
„Stimmt das!!??“ Die Stimme meiner Mutter klang zweifelnd, beschämt, betroffen, resignierend böse und traurig zugleich.
„Ja, das stimmt, Mama!“ bestätigte ich kleinlaut die erhobene Anschuldigung.
Nachdem ich ihr reuevoll alles erzählt hatte, war ihre mütterlich-bekümmerte Reaktion: „Junge, das hast du doch wirklich nicht nötig. Musst du denn immer so dumme Sachen machen. Wie bringe ich das bloß wieder Papa bei.“
Im Stadthaus wurde unsere gesamte Gruppe vernommen. Der Anzeige lagen die Aussagen eines polnischen Zwangsarbeiters und eines Ostarbeiters aus der Ukraine zugrunde, die bei der Spedition Köhler beschäftigt waren. Sie hatten uns beobachtet und die aufgebrochene Kiste entdeckt. Aus Angst, man könnte ihnen den Diebstahl der Süßigkeiten anlasten, hatten sie ihre Entdeckung gemeldet.
Dem verhörenden Kriminalbeamten schien es gar nicht recht, dass er uns deutsche Kinder wegen der Aussagen zweier Zwangsarbeiter aus den besiegten Osten des Diebstahls bezichtigen musste. Wider besseres Wissen war er bemüht, unsere Aussagen so umzudeuten, als ob wir die Opfer und die Fremdarbeiter die Täter gewesen wären. Da wir aber übereinstimmend die uns zur Last gelegten Verfehlungen zugegeben hatten, musste er sein Vorhaben, wenn auch widerstrebend, aufgeben.
Unsere Eltern hatten, als Folge der kriminalistischen Ermittlungen, für den von uns angerichteten Schaden gegenüber der Firma Köhler finanziell aufzukommen. Zum Glück wurden die Zuckermarken auf unseren Lebensmittelkarten (beim Kauf von Süßigkeiten mussten damals ja Zuckermarken abgegeben werden) nicht gekürzt.
‚Bubi‘ Plagemann und ich, als die Rädelsführer, mussten zusätzlich, drei Wochen lang jeden Sonntag Vormittag, im Stadtgebiet gemeinnützige Arbeit leisten.
Natürlich erwarteten meine Eltern von mir, dass ich mithalf, den von mir verursachten Schaden wenigstens teilweise wieder gutzumachen. Ich habe darum, bis ich in die Lehre kam, Zeitungen ausgetragen und das so verdiente Geld meinen Eltern abgegeben.
Hätten wir uns damals nur mit den Armbrüsten begnügt, kein Hahn hätte danach gekräht.
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