KINDLICHE SCHWÄRMEREI

Ich bin überzeugt, jeder Junge hat irgendwann einmal seinen ersten Schwarm. Ich war zehn Jahre alt, als es über mich kam. Mein erster Schwarm hieß Irmgard und war etwa so alt wie ich. Sie war die Tochter eines Schlossermeisters und wohnte am Ende der Grünstraße. Sie hatte volles blondes Haar und ein paar lange, dicke Zöpfe, an denen man schön ziepen konnte. Ihr Gesicht, rund, rotwangig und stets mit einem freundlichen Lächeln, war für mich damals der Inbegriff der Schönheit. Ihre Wohnung, es war schon mehr eine Villa, lag genau dem Haus gegenüber, in dem mein Schulfreund Horst wohnte. Ich besuchte meinen Freund damals öfter, immer in der Hoffnung, ihr zu begegnen. Es kam vor, dass sie mit uns zusammen spielte. Ich glaube, mein Freund Horst, dessen Vater ein Bauer mit eigener Wirtschaft war, war dem Schlossermeister als Spielgefährte seiner Tochter standesgerecht. Ich als Arbeiterkind durfte nur mitspielen, weil ich mit Horst befreundet war. Das empfand ich damals aber gar nicht so, im Gegenteil, ich war unsäglich glücklich, in ihrer Nähe zu sein. Meine Zuneigung zu ihr wurde von Mal zu Mal tiefer.

Sie ging, so wie ich auch, in die Klosterschule. Meist ging sie durch die Mittel– und Staupitzstraße zur Schule. Es kam aber auch vor, dass sie durch die Grünstraße ging und an unserer Wohnung vorbeikam. Wenn es der Zufall wollte, begegnete ich ihr und konnte, natürlich ganz zufällig, mit ihr gemeinsam zur Schule gehen.
Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt. Es war aber eine unglückliche Liebe, denn sie wurde nicht erwidert.
Ich machte mir ernsthaft Gedanken darüber, wie man die Zuneigung eines Mädchens gewinnen kann. In meinen Tagträumen gaukelte ich mir zum Beispiel folgendes vor: Das von mir heißgeliebte Wesen hat sich ein Bein gebrochen und liegt hilflos irgendwo im Wald. Zufällig komme ich dort vorbei, finde sie und trage sie auf meinen Armen nach Hause. Als ihren Lebensretter danken mir ihre Eltern ganz herzlich. Irmgard verehrte mich als Helden und erwidert von ganzem Herzen meine Liebe.
Doch in der Realität war alles völlig anders.
Einmal hatte ich mir, wie das Jungen in meinem Alter so tun, aus einem Pappkuchenteller einen Schild und aus Sperrholz einen Tomahawk - eine indianische Streitaxt - gebaut. Ins Haar hatte ich mir eine Gänsefeder gesteckt und spielte so auf unserem Hof Indianer. Mein ganzer indianischer Mut rutschte mir in die Hose und mein Herz begann wie wild zu klopfen, als Irmgard plötzlich die Grünstraße entlang kam. Doch ich ließ mir meine Unsicherheit nicht anmerken. Mit einem Scheinangriff versuchte ich, sie auf mich aufmerksam zu machen. Doch sie ging erhobenen Hauptes, um den Lippen ein spöttisches Lächeln, an mir vorüber, als ob ich Luft für sie wäre, oder noch schlimmer, als ob ich mich in ihren Augen unsterblich blamiert hätte.
Ein andermal war die Demütigung, die mir widerfuhr, noch größer.
In der Klosterschule hatten Mädchen und Jungen in getrennten Klassen Unterricht. Als in der Mädchenparallelklasse, in die meine Angebetete ging, die Rechenlehrerin wegen Krankheit ausfiel, entschied unser Rektor, Herr Wilhelm, dass die Mädchenklasse gemeinsam mit uns die Rechenstunde absolvieren sollte. Natürlich geschah das auch sittsam getrennt. Die Mädchen saßen links und die Jungen rechts in der Klasse. Bei dieser für uns ungewohnten Gemeinsamkeit begannen die Jungen wie Hähne im Korb zu Gockeln und die Mädchen wie aufgescheuchte Hühner zu gackern. Kleine Neckereien gingen von einer Seite zur anderen und auch Briefchen flatterten hinüber und herüber.
Diese Gelegenheit nutzte ich, um der von mir Angebetenen meine Gefühle zu offenbaren. Ich schrieb ein Briefchen mit etwa folgendem Inhalt: „An Irmgard! Geliebte, ich sehne mich nach einem Kuss von Dir. Dein Werner.“
Der Zettel flatterte durch die Bankreihen zur Mädchenseite hinüber. Doch bevor er sein Ziel erreicht hatte, kam unser Lehrer, Herr Rode, herein. Wie es der Teufel will, ausgerechnet mein Brief fiel ihm in die Augen.
Ich hatte gehofft, die Mädchen würden das für mich so gefährliche Beweisstück verschwinden lassen. Doch das war ein folgenschwerer Irrtum.
Herzlos und voller Schadenfreude übergaben die Mädchen das von mir verfasste Briefchen dem Lehrer. Vielleicht, so halte ich ihnen nachträglich zugute, hätten sie es nicht getan, hätten sie die Reaktion des Lehrers vorausgesehen.
Herr Rode war wegen seiner Hiebe mit dem Rohrstock bekannt und gefürchtet. Das Zettelchen in der Hand schwenkend schaute er mit finsterem Blick in die Runde. „Wer ist hier Werner?“ Seine Frage ließ mich innerlich erschaudern. Zaghaft meldete ich mich.
Was vorauszusehen war, geschah. Er forderte mich auf, nach vorn zu kommen. Mich durchfuhr ein eisiger Schreck. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass in der Stimme des Lehrers eine satanische Wollust mitklang.
Das Verhör war kurz: „Hast du diesen zerknitterten Zettel hier mit diesem hirnlosen Zeug vollgekliert?“
„Ja!“
„Dann bücke dich!!!“
Herr Rode griff hinter sich auf den Schrank und holte den daumendicken Rohrstock herunter. Dann straffte er die Hose über meinem herausgereckten Hintern, holte aus und hieb mir mit voller Kraft den pfeifenden Rohrstock auf die Arschbacken. Vor Schmerz kniff ich sie wie im Krampf zusammen, wobei die Wucht des Schlages mich einige Schritte nach vorn taumeln ließ. Der Striemen auf meinem Gesäß brannte fürchterlich, aber noch mehr brannte die Demütigung, die ich vor beiden Klassen erdulden musste.
Obwohl mir der Schmerz und die Wut die Tränen in die Augen trieb, verkniff ich mir das Heulen, zog mich mit gesenktem Haupt auf meine Bank zurück und setzte mich, ein schmerzhaftes, nach innen gezogenes ‚Sssssssst‘ nicht ganz unterdrückend, auf meinen gemarterten Po.
Nach diesem peinlichen Vorfall kühlten sich meine Gefühle für Irmgard merklich ab und bald hatte ich sie ganz vergessen. Andere Leidenschaften überkamen mich und viel Neues nahm mein Interesse in Anspruch.
Wie sagen Dichter doch richtig: Keine Liebe währet ewiglich!
vorherige SeiteSeite 43 von 164nächste Seite