WAS DAVOR GESCHAH

In den zwanziger Jahren hatte ein junges Mädchen aus Arbeiterkreisen nur zwei Möglichkeiten, selbst Geld zu verdienen; entweder sie ging als Arbeiterin in eine Fabrik, oder sie tat Dienst als Hausmädchen bei Herrschaften.
Margarete Jannick aus Sommerfeld, die Dritte von sieben Geschwistern und von den vier Mädchen der Liebling des Vaters, konnte mit ihren 18 Jahren nicht länger zu Hause bleiben. Es war schwer in den Krisenzeiten, so viele hungrige Mäuler zu stopfen.
Alle Bemühungen, eine Arbeit zu bekommen, waren bisher fehlgeschlagen. Doch endlich hatte Margarete Glück; der Pfarrer in Atterwasch suchte ein Hausmädchen, und unter den Bewerberinnen war die Wahl auf sie gefallen.
So stand denn im Herbst 1926 Margarete Jannick, eine adrette, junge Frau mit dunklem Haar und Sommersprossen, mit ein wenig zu fülliger Brust, das Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten in der Hand, etwas verschüchtert und ängstlich vor der Tür des Pfarrhauses in Atterwasch, um ihren Dienst anzutreten.
„Fräulein Jannick?“, fragte sie der Pfarrer, ein Mann in den besten Jahren, mit rötlich-blondem Haar und Bart und gutmütigem Gesicht, der ihr die Tür öffnete, freundlich.
„Ja!“
„Dann kommen Sie herein, damit wir uns bekannt machen. Sie werden sicher hungrig sein? Sind Sie etwa von Guben bis hierher gelaufen?“
Sie nickte bejahend und folgte dem Pfarrer, durch den freundlichen Empfang etwas sicherer geworden, ins Haus. Dort wurde sie von der Pfarrersfrau begrüßt, einer Frau mit hochmütig-strengem Gesicht, dunklem, straff nach hinten gekämmtem und zum Dutt aufgestecktem Haar, hellem Teint und blassen, feingliedrigen Händen. Die ganze Haltung der Pfarrersfrau während der Begrüßung drückte unmissverständlich aus: Hier bin ich die Herrin und du die Bedienstete!! Neben der Pfarrersfrau standen die zwei Jungen des Pfarrers, fünf und sieben Jahre alt, auch rothaarig wie der Pfarrer, und betrachteten, nicht ein bisschen scheu, mit ihren blauen Augen abschätzend die Neue, während sie ihr ihre Händchen reichten.
Nachdem Margarete ihre Sachen abgelegt, sich frisch gemacht und etwas gegessen hatte, setzte man sich in der guten Stube zusammen, um die Einzelheiten des Arbeitsvertrages zu besprechen und sich über die künftigen Tätigkeitsbereiche zu verständigen.

Atterwasch (Messblattauszug), der Pfeil zeigt auf das Wohnhaus meines Vaters

„Wie mit Ihrem Vater abgesprochen, geht Ihre Arbeitszeit von 6.00 Uhr früh bis 19.00 Uhr abends“, wurde ihr von der Pfarrersfrau verkündet, „sie haben das Haus sauber zu halten, mir in der Küche zur Hand zu gehen und sich ein wenig um meine Jungen zu kümmern. Sie erhalten freie Unterkunft und Verpflegung und bekommen 20,00 Reichsmark monatlich als Entlohnung. Die Abende, jeden vierten Mittwochnachmittag und jeden zweiten Sonntag haben Sie frei!!!“ Anschließend fragte Frau Pfarrer, jeden Einspruch von vornherein ausschließend, dann noch: „Wenn Sie einverstanden sind, werden wir Grete zu Ihnen sagen?!“
Damit begann für Margarete Jannick eine Etappe harter Arbeit, aber auch, wenn auch in eingeschränkter Form, Abschnitte freier Zeit, die sie so bei ihren Eltern nicht gehabt hatte.
Atterwasch, das Dorf in dem sie jetzt lebte, war eine Gemeinde von etwa 350 Einwohnern. Es gab außer der Kirche noch eine Gaststätte, einen Bäcker, der gleichzeitig Kolonialwaren verkaufte, eine Wassermühle, eine Schule und einen kleinen Sportplatz.
Bis nach Guben, der nächstgrößten Stadt mit Bahnanschluss, waren es ungefähr 7 Kilometer. Das war eine Strecke, die man gut zu Fuß bewältigen konnte, um am Wochenende, wenn es Frau Pfarrer erlaubte, mal nach Hause zu fahren.
Es dauerte nicht lange, und Grete hatte sich in ihrem neuen Zuhause gut eingelebt. Zur Zufriedenheit der Pfarrersfrau war sie recht anstellig und die Arbeit ging ihr flott von der Hand. Mit den beiden aufgeweckten Jungen kam sie gut zurecht, ja, sie hatte sie sogar wegen ihrer heiteren Unbekümmertheit in ihr Herz geschlossen.
Doch am schönsten war es, wenn die Frau des Pfarrers mit ihren Jungen für ein paar Tage zu ihrer Schwester reiste. Dann war Grete mit dem Herrn Pfarrer allein, konnte sich ihre Arbeit so einteilen, wie sie es wollte und durfte kochen, wozu sie Lust hatte. Manchmal bat sie der Pfarrer in dieser Zeit sogar, sein Leibgericht, Hefeklöße mit Blaubeeren zuzubereiten. Sie fand es lustig, wenn der Herr Pfarrer in seinem schwarzen Ornat würdig am Tisch saß und von den Blaubeeren eine ganz blaue Gusche bekam.
Im Dorf nannte man sie Pfarrers Grete. In dieser Bezeichnung lag schon ein wohlwollendes Anerkennen für das fleißige, bescheidene Mädchen aus der Stadt.
Es dauerte nicht lange, und sie hatte sich mit einigen Bauernmädchen im Dorf angefreundet. Wenn in der Dorfgaststätte Tanz war, was recht selten vorkam, dann ging auch sie mit den anderen Mädchen zum Schwof.
Sie tanzte gerne und auch gut, und es waren nicht wenige Dorfjungen, die mit Pfarrers Grete anzubandeln versuchten. Bald wurde aber neidlos akzeptiert, dass Krauses Otto, Sohn eines kleinen Landwirtes und Zimmermannes, und gelernter Schuhmacher, das Rennen bei ihr gemacht hatte.
Otto hörte etwas schwer, was einer Kinderkrankheit anzulasten war. Dennoch tanzte er besser, als mancher, der gut hören konnte, denn er spürte den Rhythmus als Resonanz auf dem Parkett und kam so ganz selten aus dem Tritt. Da er der Kirche gegenüber wohnte, hatten sie auch den gleichen Weg und gingen oft gemeinsam vom Tanz nach Hause.
Das Hochzeitsbild meiner Eltern

Die Heiratsurkunde meiner Eltern

So wurde aus der Tanzpartnerschaft eine Freundschaft und daraus schließlich eine junge Liebe. Zuerst hielt man sich bei der Hand, dann kam der erste scheue Kuss. Dem ersten folgten weitere, dann auch leidenschaftlichere. Zuerst noch schüchtern widerstrebend ließ Grete bald geschehen, dass Ottos Hände Stellen ihres Körpers berührten und streichelten, wofür nach den Keuschheitsgeboten der Kirche das heilige Sakrament der Ehe erforderlich gewesen wäre.
Seinem Drängen nachgebend kam, was kommen musste! Beide jung und in Liebesdingen unerfahren, hatten sie von Verhütungspraktiken keine Ahnung.
So ist es dann passiert!!!
In einer lauen Julinacht 1927, in einer Scheune auf weichem Haferstroh wurde ich gezeugt!
Zuerst wollte Grete es nicht wahrhaben, als ihre Regel ausblieb. Dann, als es zur unumstößlichen Tatsache geworden war, versuchte sie das Geschehene rückgängig zu machen, indem sie heiße Fuß- und Sitzbäder machte, schwere Lasten hob und die Stufen der Kellertreppe hinunter hopste. Alles vergeblich!!!
Ich, das in Sünde gezeugte Kind, ließ mich nicht abtreiben.
Zuerst verheimlichte Grete, dass sie schwanger war. Das ging die ersten Monate gut. Doch dann war der schwellende Bauch bei ihr nicht mehr zu übersehen und für alle erkennbar.
Jetzt kam die Zeit der Offenbarung!!
Otto fiel aus allen Wolken, als seine Grete ihm verschämt zögernd mitteilte, dass er Vater werden würde. Er bekannte sich aber dazu und beide verlobten sich offiziell.
Vater Jannick war bitter enttäuscht, dass gerade seine Lieblingstochter ihm ein uneheliches Kind bescherte. Von ihr hatte er es am wenigsten erwartet.
Für die Pfarrersfrau war klar; ein schwangeres Dienstmädchen konnte sie nicht gebrauchen. Deshalb wurde Grete sofort gekündigt.
Ich aber, zufällig zum Leben erweckt, entwickelte mich, allem Unbill zum Trotz, prächtig, was am wachsenden Bauch meiner Mama zu erkennen war, und stellte mit manchem Tritt meiner kleinen Füße meine mobile Lebendigkeit unter Beweis.
Mit ihrer Heirat im Januar 1928 in Sommerfeld taten der Schuhmacher Otto Krause und die Fabrikarbeiterin und Dienstmagd Margarete Jannick allen Kund, dass sie künftig ihre elterlichen Pflichten als Ehepaar erfüllen wollten.
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