GEWERKSCHAFTSSCHULE BELZIG

Als frisch gekürter Gewerkschaftsfunktionär merkte ich sehr bald, ein fester Klassenstandpunkt genügt nicht, um eine Funktion richtig auszuüben, dazu sind auch theoretisches Wissen und politische Ausbildung erforderlich. Deshalb bemühte ich mich, einen Lehrgang an einer Gewerkschaftsschule zu besuchen.
Ich hatte Glück. Schon im Dezember 1948 wurde ich auf einen 14-tägigen Lehrgang an die Gewerkschaftsschule in Belzig delegiert.
Ich hatte mich am Montag, dem 6. Dezember bis 12.00 Uhr dort einzufinden. Um mit dem Zug von Guben nach Belzig zu kommen, musste ich über Frankfurt Oder und Berlin fahren und mehrmals umsteigen. Ich hätte um 2.oo Uhr Nachts in Guben losfahren müssen, um pünktlich um 12.oo Uhr in Belzig zu sein. Das war mir nun doch zu unbequem. Deshalb entschloss ich mich, am Sonntag nach Frankfurt zu fahren, dort im Bahnhofshotel in der Tunnelstrasse zu übernachten und morgens ausgeruht von dort nach Belzig zu dampfen.
Die Schule lag etwas außerhalb von Belzig, und obwohl der Zug pünktlich war, kam ich deshalb doch etwas verspätet an. Zum Glück war ich nicht der einzige, und im Trubel der Anmeldung fiel das sowieso keinem auf.
30 junge und alte Gewerkschaftsfunktionäre hatten sich dort versammelt, um sich erstmals mit der Theorie und Politik der Arbeiterklasse zu beschäftigen. Wir waren zu fünft in den Zimmern untergebracht. Der Schulbetrieb war recht leger. Wir hörten einige Referate. Die meiste Zeit aber diskutierten wir in zwei Gruppen über Probleme der Gewerkschaftsarbeit.
Hauptthema war die Rolle der Arbeiterklasse bei der Schaffung der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse. Für keinen von uns gab es Zweifel, dass die Stärke der Arbeiterklasse in ihrer Einheit liegt, und das diese Einheit nur im Kampf errungen werden kann.
Die Diskussion über die Notwendigkeit und Bedeutung der marxistisch-leninistischen materialistischen Weltanschauung verlief für mich damals noch recht diffus. Aber ein Gedanke schockte mich anfangs, weil er mein bisheriges Weltbild ins wanken brachte: Die Welt entwickelt sich gesetzmäßig aus sich selbst und es gibt keinen Schöpfer und Lenker in Form eines Gottes.
Schließlich ist mir von meinem ersten gewerkschaftlichen Schulbesuch noch ein Erlebnis in Erinnerung, welches ich mit noch einem jungen Gewerkschafter am letzten Abend hatte.
Wir waren nach Belzig gegangen, um in einer Gaststätte etwas Abschied zu feiern. Wir hatten ein paar Tänzchen gemacht, etwas getrunken und waren in bester Stimmung, als wir die Gaststätte zu Feierabend verließen. Vor dem Tanzlokal standen einige Mädels. Aus Spaß sprachen wir eine an.
„Hallo, du Schöne, wir haben noch einen weiten Weg, wir müssen zur FDGB-Schule, hast du nicht Lust, uns bis dorthin zu begleiten?“
Wir hatten erwartet, eine flapsige Absage auf unser anmaßendes Ansinnen zu erhalten. Doch ganz im Gegenteil.
Sie kam vertrauensvoll auf uns zu und verkündete zu unserem Erstaunen: „Wenn ihr wollt, komme ich gerne mit euch mit und begleite euch zur Gewerkschaftsschule. Ich habe sowieso im Moment nichts weiter vor.“
Wir nahmen ihr ungewöhnliches Angebot an und machten uns gemeinsam auf den Weg.
Unterwegs fragten wir sie provokatorisch, ob sie bereit wäre, mit uns auf unser Zimmer zu kommen. Wir dachten, wir könnten sie dadurch davon abzuhalten, zur Schule mitzugehen, denn wir hatten nicht irgendwelche Absichten.
Zu unserer Überraschung stimmte sie aber zu. Sie fragte lediglich: „Gibt es denn da keinen Pförtner. Kann ich denn ohne weiteres mit hinein kommen?“
„Wir liegen aber mit noch drei anderen auf unserem Zimmer! Hoffentlich macht dir das nichts aus, dass wir dann zu fünft sind?“, spitzten wir die Sache bewusst zu.
Doch auch diese Aussicht schreckte sie nicht ab.
In der Zwischenzeit waren wir an der Schule angelangt. Was sollten wir nur mit dem Mädchen machen, das so bereitwillig alle unsere Vorschläge akzeptiert hatte? Wir konnten sie doch nicht wirklich mit auf unser Zimmer nehmen.
Wir retteten uns aus der verfahrenen Situation, indem wir sie baten: „Warte mal hier am Eingang. Damit wir keinen Ärger bekommen, müssen wir erst unsere Kollegen wecken und mit ihnen die Sache besprechen. Wenn alles klar ist, holen wir dich dann ab!“
Darauf hin verschwanden wir, und ließen uns nicht mehr blicken. Das war zwar recht schofelig, aber der einzige Weg, um sie los zu werden.
Ich hoffe, sie hat bald gemerkt, wo der Hase im Pfeffer liegt, und hat nicht all zu lange umsonst gewartet.
Wenn ich heute darüber nachdenke, komme ich zu der Auffassung, hier war bestimmt ein Amateurnuttchen am Wirken gewesen, welches sich einen schönen Nebenverdienst erhofft hatte.
Leider vergebens!
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