IM NEUEN BETRIEB

Ein wenig Herzklopfen hatte ich schon, als ich mich am Morgen des 19. September 1945, einem Mittwoch, auf den Weg zu meiner neuen Arbeitsstelle begab. Da ich nicht wusste, was mich im neuen Betrieb erwarten wird, war ich gleich in Arbeitssachen dort hingegangen. Lediglich die Tischlerschürze hatte ich in die Aktentasche geknüllt, in der ich auch etwas zu Essen mithatte. Meine neue Arbeitsstelle war die ,Maschinenfabrik und Eisengießerei A. Köhler‘, die später, im Zuge der 1946 durchgeführten Enteignung, in den Volkseigenen Betrieb ,VEB GUS Gubener Eisenwerke‘ umgewandelt wurde.
Es war mein Glück als frisch gebackener Modelltischler-Geselle, dass es in Guben neben meinem leider demontierten Lehrbetrieb ,Wilhelm Quade‘, noch diesen zweiten Gießereibetrieb mit Modelltischlerei gab. Dadurch bekam ich sofort nach meiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Arbeit in meinem erlernten Beruf.
Ich meldete mich im Büro. Nachdem die Aufnahmeformalitäten erledigt waren, wollte mir der Angesellte erklären, wie ich in die Modelltischlerei käme.
„Das ist nicht nötig“, bedankte ich mich für die Information, „ich kenne den Weg, denn ich habe im vergangenen Jahr dort meine praktische Gesellenprüfung abgelegt“.
Etwas sonderbar war es für mich schon, dass ich nun in den Räumen, in denen ich vor knapp einem Jahr mein Gesellenstück hergestellt hatte, als Modelltischler arbeiten sollte.
„Ach, du bist wohl der Neue, wir sind schon informiert, dass du heute hier anfängst“, kam ein älterer Kollege aus der linken hinteren Ecke der Werkstatt auf mich zu und begrüßte mich freundlich.
„Ich bin Karl Tomcack“, stellte er sich vor, „und hier als Leiter der Modelltischlerei eingesetzt worden. Ich bin zwar kein Meister, aber einer muss ja diese Funktion ausüben. Der frühere Meister lebt nicht mehr, er ist in den letzten Kriegstagen noch als Volkssturmmann eingezogen worden und bei den Kämpfen um Guben umgekommen.
Der da“, er wies auf den Kollegen, der hinten rechts an der Hobelbank stand und ein altes Modell reparierte, „ist Otto Hoffmann. Wir arbeiten beide hier, seitdem der Betrieb wieder die Produktion aufgenommen hat.“
Kollege Hoffmann unterbrach kurz seine Tätigkeit, um mich ebenfalls zu begrüßen. Er gab mir freundlich die Hand und wünschte mir alles Gute für meine neue Tätigkeit.
„Wenn du dich umziehen möchtest, draußen im Vorraum den mittleren Schrank kannst du nutzen“, ließ mich Kollege Tomcack wissen. Da ich mich nicht umziehen brauchte, stellte ich lediglich meine Aktentasche in den Schrank, nachdem ich mir meine Tischlerschürze umgebunden hatte. Daraufhin wies mir Karl Tomcack, (bis zum Kriegsende hatte er auf der anderen Seite der Neiße, im Ostteil der Stadt, in der Kuscherner Strasse 72 gewohnt.) meine Hobelbank an der Fensterfront zum Werkhof zu und übergab mir einen Schrank mit dem erforderlichen Werkzeug.
In der Werkstatt hatte sich so gut wie nichts verändert. Sogar das von mir im Herbst 1944 gefertigte Gesellenstück fand ich verstaubt in einer Ecke des Modelllagers.
Am ersten Tag passierte nicht viel. Kollege Tomcack zeigte mir das Holzlager, führte mich durch die einzelnen Betriebsabteilungen und stellte mich einzelnen Arbeitskollegen vor. Weiterhin nutzte ich die Zeit, um meine Werkzeuge zu schärfen und sie auf ihre Funktionalität zu prüfen, was die Kollegen, wie ich den Eindruck hatte, verstohlen beobachteten und insgeheim würdigten.
Als ich am Abend meines ersten Arbeitstages den Betrieb verließ, steckte schon meine Stempelkarte in der Stechuhr am Pförtnerhäuschen. Auf ihr wurde beim Betreten und beim Verlassen des Betriebes automatisch Datum und Uhrzeit aufgedruckt und so Arbeitsbeginn und –ende exakt registriert. So war immer sofort nachzuprüfen, wer sich im Betrieb befand.
In den ersten Tagen spürte ich an den zweifelnden Blicke meiner neuen Arbeitskollegen, dass sie wenige Erwartungen in mein fachliches Können setzten.
Was kann man von einem 17–jährigen Modelltischlergesellen, der auch noch nur die Notprüfung gemacht hatte, schon erwarten?. Sie verhielten sich mir gegenüber Anfangs auch recht zurückhaltend. Ich bekam in der ersten Zeit überwiegend Reparatur-Arbeiten an ramponierten Modellen übertragen, musste an der Drechselbank Kernmarken verschiedener Größen auf Vorrat drehen und durfte versuchsweise auch mal an einem einfachen Modell Änderungsarbeiten vornehmen.
Da kurz nach dem Krieg in allen Betrieben meistens nur alte Maschinen zur Verfügung standen, die oft recht reparaturanfällig waren, mussten wir oft nach alten, zerschlissenen Bauteilen Modelle für den Guss neuer Teile anfertigen. Es blieb Kollegen Tomcack, auf Grund der Fülle der anfallenden Arbeit deshalb gar nichts weiter übrig, er musste notgedrungen auch mich mit komplizierteren Aufgaben betrauen.
Jetzt konnte ich meine Kenntnisse und Fähigkeiten, ich hatte ja von meinem Lehrgesellen bei der Firma Wilh.Quade eine gute Ausbildung erhalten, voll ausschöpfen.
Nach der Bodenreform beschloss die provisorische Regierung in der sowjetisch besetzten Zone ein landwirtschaftliches Hilfsprogramm, um besonders den Neubauern über die MAS (Maschinen-Ausleih-Stationen), ausreichend landwirtschaftliche Maschinen zur Verfügung stellen zu können.
Unser Betrieb musste auch dazu seinen Anteil leisten, und Teile für Landmaschinen herstellen. Neben einfachen Teilen, wie Lagerbuchsen, Riemenscheiben usw. waren auch so komplizierte Teile, wie große und kleine Zahnräder, unterschiedliche Kegelräder, im Fertigungsprogramm enthalten.
Es dauerte deshalb gar nicht lange, und ich bekam auch solche verantwortungsvollen Aufgaben, wie die Herstellung von Modellen für Zahnrädern, übertragen. Anfangs noch ganz einfache mit wenigen Zähnen, später aber auch recht komplizierte für Kegelräder.
Wir arbeiteten damals noch 48 Stunden die Woche. Freitags gab es die Lohntüte mit unserem Wochenlohn. Bei einem Stundenlohn von 0,75 Mark waren das damals ganze 36,00 Mark brutto die Woche. Das war wirklich nicht viel, aber immerhin verdiente ich mein eigenes Geld.
Auf Anraten unseres Betriebsratsvorsitzenden, Kollegen Hanschke, organisierte ich mich, wie es sich für einen Arbeiter in einem Betrieb der neuen Zeit gehört, auch gewerkschaftlich. Am 1. Dezember 1945 wurde ich Mitglied des FDGB.
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